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Der Flipped Classroom: Haben wir einfach keine Lust?

Dass ich kein großer Freund der monokulturartigen, klassischen Vorlesung an Universitäten bin, dürfte aufmerksamen Lesern dieses Blogs nicht entgangen sein. Da werden Studierende in einen Raum zusammengebracht, wo sie von- und miteinander lernen könnten, müssen dann aber still sein und in den Kinomodus schalten. Vorne spielt die Musik. In einem festen Tempo, in einem festen Rhytmus, zu einer festen Zeit. Wer dann nicht da ist, geht leer aus. Wer es gerne langsamer oder schneller, häppchenweise oder wiederholt hätte, hat Pech gehabt.

Wieso sollte man diese kostbare Zeit vergeuden, in der sich Lehrende und Studierende tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen? Wenn ich ausschließlich Input zu liefern habe, kann ich den auch in ein Video verpacken und vor einem Termin zur Verfügung stellen. Das kann man sich beliebig oft zur gewünschten Zeit anschauen. In der Veranstaltung selbst kann ich dann darauf aufbauen und damit richtig arbeiten, Fragen dazu beantworten oder über bestimmte Aspekte diskutieren. Statt in der Uni den Stoff präsentiert zu bekommen und ihn zu Hause zu üben und zu vertiefen, wird der Spieß einfach umgedreht. Das wird daher auch Flipped Classroom genannt.

Die Idee ist mal wieder nicht neu, aber trotzdem weit davon entfernt, weit verbreitet zu sein. In meinem eigenen Studium nutzte ein Informatikprofessor aufbereitete Videos seiner Vorlesungsinhalte inklusive passender Einspieler zu besonderen Aspekten, etwa Bilder, die er im Silicon Valley gemacht hatte. Die Präsenzveranstaltungen bauten dann auf dem auf, was in den Videos schon vorgestellt wurde. Nach demselben Prinzip wird etwa in der Fachhochschule Osnabrück mit Podcasts vorgegangen.

Etwas bekannter wurde das Konzept aber jetzt – wie sollte es anders sein – durch einen Lehrer in den USA: Salman Khan hat hunderte von Videos in der Khan Academy zur Verfügung gestellt, einer Lernumgebung, in der man selbständig Lektionen bearbeiten und seine Fortschritte festhalten kann. Khan erklärt das ausführlicher in einem TEDx-Vortrag.

Warum kommt so etwas in Deutschland eigentlich nicht in die Gänge? Fehlt es an Geld? Um das Konzept überhaupt zu nutzen, braucht es eigentlich nicht viel. Christian Spannagel etwa stellt die Videos seiner umgedrehten Mathematikvorlesung einfach bei YouTube ein. Mit einer speziellen Plattform gäbe zwar sicher noch einen Zusatznutzen, aber machbar ist es auch so. Jetzt. Haben wir vielleicht einfach keine Lust dazu? Lust dazu, uns selbst ein wenig umzuwöhnen und ein paar Anstrengungen auf uns zu nehmen? Ich denke, da kommen wir der Sache schon näher. Ich kann nun zwar nur von Professoren sprechen, nicht von Lehrern, aber von deren Seite habe ich schon verschiedene Vorbehalte gehört.

1. Der Reputationsbewusste
„Was, wenn ich vielleicht einmal einen Fehler mache? Dann können das ja auch andere Professoren mitbekommen.“ Sehen wir einmal davon ab, dass man die Videos nicht zwangsläufig der ganzen Welt zugänglich machen muss: Hier fürchtet jemand um seine Reputation. Kollegen könnten sich ja über eventuelle Pannen lustig machen. Studierende werden dazu angehalten, sich nicht vor Fehlern zu fürchten, selbst wollen einige Professoren aber doch lieber ein makelloses Scheinbild von sich präsentieren.

2. Der Besitzstandswahrer
Ein anderer Professor fürchtete, Politiker könnten an den Arbeitsplätzen seiner Zunft sägen, weil die Aufzeichnungen sie überflüssig machen könnten. Wäre das denn möglich? So ist es jedenfalls nicht gedacht, denn die Videos sollen die Präsenzzeit nicht ersetzen, sondern ergänzen. Aber dann müssen Professoren natürlich wirklich gut lehren statt nur 90-Minuten-Monologe zu halten. In den Worten von Gunter Dueck hieße das, der Commodity-Teil kann durch Dienste im Internet erbracht werden und der Premium-Teil bleibt übrig, für den man aber professionell intelligent sein muss. Ist der Professor das nicht und bietet auch nichts, was über die Präsentation von Inhalten hinausginge, warum sollte man das nicht mit Videos abdecken? Hier kommt jedoch noch eine Befürchtung ins Spiel: Selbst wenn ein Professor professionell intelligent wäre und richtig etwas auf dem Kasten hätte, würden Politiker das nicht sehen und die Videos als vollwertigen Ersatz ansehen – und auf lange Sicht Stellen abbauen.

3. Der Gekränkte
Von einem anderen Professor habe ich gehört, er hätte seine Vorlesungen aufgezeichnet und nachträglich ins Netz gestellt. Das ist zwar nicht die Idee des Flipped Classroom, aber dennoch entstehen schon hier Vorbehalte gegen Videos. Hier kam es nämlich dazu, dass kaum noch jemand die Veranstaltung besuchte. Das ist eigentlich nicht tragisch, denn mit weniger Leuten lässt sich besser interagieren und Studierende sind erwachsene Menschen und können selbst entscheiden, ob sie die Gelegenheit wahrnehmen möchten oder nicht. Offenbar sehen sie in den Videos aber einen guten Ersatz für die Vorlesungen mit den eingangs erwähnten Vorzügen. Beim Professor kommt das allerdings als Geringschätzung seiner Arbeit und vielleicht sogar seiner Person an. Indem er die Studierenden quasi drängt, seinen Vorträgen live zu lauschen, täuscht er sich zumindest selbst. „Das Haus ist voll, ich mache gute Arbeit.“

Wenn also jemand etwas wie eine deutsche Khan-Academy vorantreiben möchte, sollte er sich in meinen Augen nicht nur auf die Finanzierung und Erstellung einer Infrastruktur beschränken. Vielleicht ist es das viel größere Problem, die Menschen mitzunehmen, die bisher die Lehre leisten und denen ein Umdenken schwer fällt: „Bisher sind wir ja auch gut damit gefahren.“, „Denkt doch mal an die ganzen Risiken!“,  „Das ist ein Hype, der geht vorbei, man muss nicht alles mitmachen.“ Oder können wir das vernachlässigen und uns am viel beschworenen und oft gescholtenen System doch irgendwie vorbeimogeln?

Wissen und Macht und Präsentationskunst

Gerade lese ich die Bücher von Garr Reynolds, in denen er sich dem Thema Präsentieren widmet. Er beschreibt darin, wie wichtig Planung und Vorbereitung sind, was gutes Design ausmacht (mehr als Schmuckwerk), warum Schlichtheit wichtig ist und man Folienumente verbannen sollte, wie bedeutsam es ist, die Zuhörer einzubeziehen und ganz viele andere Dinge. Die Bücher sind wirklich gut!

Ich habe das selbst noch nicht alles ausprobiert, ich kann das nicht alles auswendig wiedergeben oder gar umsetzen. Aber ich war am Donnerstag und Freitag in Berlin auf der Tagung Wissen und Macht – die neue Freiheit im Internet? und habe mal ganz bewusst auf die Präsentationen der Vortragenden geachtet – und mit Präsentation sind hier nicht bloß Folien gemeint, sondern der gesamte Auftritt. Da gab es ganz unterschiedliche Ansätze, von denen ich ein paar herausgreife.

Verena Metze-Mangold (Vizepräsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission) hat beispielsweise vom Blatt abgelesen und dazu eine PowerPoint-Wüste zur Visualisierung benutzt. Der Text war zwar ausgefeilt, aber als Vortrag kaum verfolgbar, und die grafische Unterstützung alles andere als hilfreich. Anders war das bei Sigrid Baringhorst (Professorin in Siegen). Sie hat zwar auch aus einem Manuskript gelesen – zwar irgendwie unpersönlich – aber auf eine Weise , dass man ihr recht gut folgen konnte. Ihre ebenfalls textlastigen Präsentationsfolien hätte sie nach meinem Empfinden einfach weglassen sollen, die waren nicht schön und wirkten ablenkend.

Frau Metze-Mangold präsentierte mit einem Folienument

Frau Metze-Mangold präsentierte mit einem Folienument

Offenbar gestützt auf einige Stichworte, ganz ohne grafisches Beiwerk, sprach Constanze Kurz (Sprecherin des Chaos Computer Club). Gleichwohl ich ihre Art ein wenig zu bedächtig fand, gefiel mir ihr Vortrag gut. Stephan Urbach (Netzaktivist) ging ähnlich vor und nutzte Karteikärtchen, die jedoch leider für einen etwas stockenden Redefluss sorgten. Bis auf einen Schuss zu viel Demagogie gefiel mir aber, dass er eine Geschichte erzählte und nicht einfach kalte Fakten vorstellte.

Sehr frei und energisch sprach Frank Schomburg (nextpractice GmbH), da wurde man wach. Seine Präsentationsfolien waren teilweise allerdings überladen und wurden in einem so flotten Tempo an die Wand geworfen, dass ich die Inhalte nur schwerlich nachvollziehen konnte.

Zum Schluss kam Gunter Dueck (ehemaliger CTO von IBM Deutschland) an die Reihe. Als einziger löste er sich vom Platz hinter dem Rednerpult, das die Verbindung zum Publikum hemmt. Außerdem stieg er nicht gleich ins Thema ein, sondern begann mit einer persönlichen Erzählung. Da fühlt man sich wohl. Allerdings kamen mir viele Folien schlicht überflüssig vor, die hätte er gar nicht benötigt, und ich fand sie optisch auch nicht unbedingt hilfreich. Zudem hatte ich persönlich das Gefühl, dass dem Vortrag eine klare Linie fehlte und von allem ein bisschen drin war, aber nicht unbedingt passend zum Vortragstitel. Dass Herr Dueck das Zeitlimit gnadenlos überschritt, gehört wohl ebenso nicht zum guten Ton, aber da zumindest ich seine Rede sehr unterhaltsam fand: verziehen :-)

Gunter Dueck nah dran am Publikum

Gunter Dueck war nah dran am Publikum

Wenn ich nun mein persönliches Gefühl mit dem vergleiche, was Garr Reynolds in seinen Büchern schreibt, dann muss ich ihm recht geben. Schlechte Präsentationsfolien schaden einem guten Redner im schlimmsten Fall deutlich mehr als sie nutzen, und ein schlecht vorbereiteter und gehaltener Vortrag wird durch schöne Bilder allein auch nicht gerettet. Ein weiterer Punkt, an dem ich selbst arbeiten muss.

Professionelle Intelligenz

Nachdem ich vor rund einem halben Jahr das Buch Aufbrechen! Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen von Gunter Dueck gelesen hatte, wartete ich mit Spannung auf sein neuestes Werk: Professionelle Intelligenz – Worauf es morgen ankommt. Das habe ich nun gelesen, und da es sicher auch für andere interessant ist, werde ich einen kleinen Spagat versuchen. Einige Aspekte möchte ich hier im Blog aufgreifen, so dass man die Ideen versteht, aber auch nicht so viel verraten, dass sich niemand mehr das Buch kauft. Wäre schade. In Kürze kann ich das nämlich gar nicht alles wiedergeben, und dann heißt es nachher, das wäre ja alles viel zu einfach geschildert. In dem Buch steht viel mehr drin, ausführlicher und mit vielen Beispielen garniert. Also mal sehen, ob mir mein Vorhaben gelingt.

Der Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der Diskussion ist das, was in Aufbrechen! bereits von Herrn Dueck beschrieben wurde. Die Arbeitswelt wandelt sich. Dienstleistungsberufe werden auf Effizienz getrimmt und automatisiert, wie man das schon aus der Industriebranche kennt. Und verantwortlich ist das Internet.

Sogenannte Experten wie Ärzte, Finanzberater oder auch Professoren verlieren schlicht ihren Machtvorteil, wenn er sich nur aus einem kleinen Informationsvorsprung speist. Der Pool an Wissen ist schließlich im Internet viel größer, und auf den kann man ganz einfach zugreifen. Ich brauche bei einfachen Dingen ja zum Beispiel niemanden dafür, um mir die möglichen Auswirkungen einer Krankheit zu nennen oder die Preisstaffelung für eine Versicherung. Das kann ich selbst online nachlesen, dafür bezahle ich kein Geld. Und bei speziellen Fragen müsste der Durchschnittsdienstleister auch nachforschen. Wie viele Menschen sterben eigentlich an Krankheit X bei Behandlungsmethode Y? Wie schlägt sich Aktie Z aus Brasilien? Das weiß ich vermutlich besser, wenn ich vorher kurz gegoogled habe. Ohne Zugang zur internen Datenbank, zum Internet oder zu Kollegen sind diese Experten dann auch aufgeschmissen. Das habe ich gerade selbst schmerzlich erlebt bei einem Telefonat mit einer großen deutschen Bank.

Wissen WAR Macht – es gibt kein Herrschaftswissen mehr (S. 37)

Was übrig bleibt, sind die wirklich schwierigen Fälle, die sich nicht so einfach rationalisieren lassen. Standardsachen fallen weg. Impfen? Weg. Macht der Impfspezialist, der auch alle Impfstoffe immer vorrätig hat, günstiger ist und bei dem man nicht noch lange warten muss. Daran verdient der normale Arzt dann kein Geld mehr. Klassische Frontalvorlesungen zu Grundlagenthemen? Weg. Da kann ein rhetorisch guter Professor einmal Videoaufzeichnungen machen, und die kann sich dann jeder wann, wo und wie oft er will online anschauen.

Wir bekommen eine massive Spaltung in Premium und Commodity, in Hochwertiges und Massenware – und das eben auch dort, wo viele sich vielleicht in Sicherheit wiegen. Was im Premium-Bereich gefragt ist, sind Professionals, die selbständig in komplexen großen Netzen arbeiten.

Die Arbeitswelt

Diese Entwicklung verlangt nun zweierlei. Zum einen müssen Unternehmen natürlich Geld verdienen im Tagesgeschäft, zum anderen müssen sie sich aber ständig den sich wandelnden Gegebenheiten anpassen. Die einen Mitarbeiter arbeiten im System, die anderen am System. Und das gleichzeitig, da kann es zu Problemen kommen. Ein Chirurg würde sicher auch gerne erst den Kreislauf des Patienten anhalten, dann operieren und im Anschluss den Körper wieder weiterarbeiten lassen, aber das geht nicht. Damit also die OP am offenen schlagenden Herzen gelingt, werden in beiden Bereichen besondere Persönlichkeiten verlangt:

  • Die Professionals im System sollten T-Shape-Spezialisten sein, die über ein tiefes Wissen verfügen, aber auch in der Breite vernetzt zu anderen Bereichen sind, also keine Fachidioten. Sie müssen sich in ihrer Materie auskennen, aber auch über einen Blick auf das Ganze verfügen.
  • Die Professionals am System, die Keystones, sollten sich um das Entwickeln dieses großen Ganzen kümmern und den Wandel vorantreiben. Sie bringen Menschen netzartig zusammen und sind für das Gelingen der Zusammenarbeit verantwortlich.

Diese Professionals müssen nach Herrn Dueck in einem Umfeld agieren, in dem eine gesunde Balance zwischen Kooperation und Wettbewerb notwendig ist (Coopetition). Darüber hinaus sagt er, es finde eine Verschiebung von Werten statt. Die Arbeitswelt leiste noch erheblichen Widerstand gegen die Umbrüche, die das Internet mit sich bringt, gegen die Vorstellungen der Digital Natives. Die würden sich unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie Dinge einfach ausprobieren, zügig entscheiden und bei Fehlschlägen einfach von vorne anfangen. Scheitern sei keine Schande – erinnert das noch jemanden an die Neuronenmetapher von Jean-Pol Martin, die den Unterricht nach LdL charakterisieren könnte? Die Digital Immigrants kämen damit aber nicht so gut zurecht. Der Vollständigkeit halber weise ich hier auf eine etwas andere Unterteilung von David White hin, in Digital Residents und Digital Visitors. Die hat etwa auch Peter Kruse auf einem Vortrag auf der re:publica 2010 benutzt.

Soweit das Vorgeplänkel. Was soll nun diese Professionals ausmachen? Sie sollen die Fähigkeit haben, etwas Erstklassiges zu erschaffen. Sie sollen professionell intelligent sein.

Professionelle Intelligenz

Unter professioneller Intelligenz versteht Herr Dueck weit mehr als das, was man landläufig mit einem IQ-Test misst. Der prüft nämlich nur so etwas wie Sprachkompetenz, Merkfähigkeit und logisches Denken. Bisher war der ermittelt Wert, der IQ, wohl recht gut mit Leistung in der Schule oder dem Erfolg im Beruf korreliert, aber das ändere sich gerade. Es wird künftig und auch schon jetzt viel mehr gefordert: Einfallsreichtum, Phantasie, Sinnstiftung, Teamfähigkeit, Führungsstärke, usw. Das hat mit dem IQ nicht mehr viel zu tun.

Nach Herrn Dueck bedarf es einer ganzheitlich entwickelten, maßvollen professionellen Intelligenz, die sich aus verschiedenen Teilintelligenzen zusammensetzt (pragmatisch hergeleitet, nicht streng wissenschaftlich):

  • IQ – die normale Intelligenz des Verstandes: Planen, Ordnen, Formulieren, usw.
  • EQ – die emotionale Intelligenz des Herzens und der Zusammenarbeit, wie man sie etwa von Daniel Goleman kennt: andere verstehen, Teamfähigkeit, usw.
  • VQ – die vitale Intelligenz des Instinktes und des Handelns: Durchsetzungsfähigkeit, Bauchgefühl, Risiken eingehen, …
  • AQ – die Intelligenz der Sinnlichkeit (attraction) und der instinktiven Lust und Freude: Sinn für Schönheit, Ästhetik, Verzauberung, etwas an den Mann/die Frau bringen können, usw.
  • CQ – die Intelligenz der Kreation (creation) oder der intuitiven Neugier: Liebe zu Innovation, entfesseltes Denken, usw.
  • MQ – die Intelligenz der Sinnstiftung (meaningfulness) und des intuitiven Gefühls: Sinn für ethisch Wertvolles, weltrettende Konzepte, Ehrenamtlichkeit, usw.

Ganzheitlich entwickelt, weil unterschiedliche Berufe zwar durchaus mehr oder weniger Wert auf eine der Teilintelligenzen legen, aber alle notwendig sind, um wirklich professionell zu sein und eine hohe Stufe des Kennens und Könnens zu erreichen. Maßvoll entwickelt deshalb, weil eine zu starke Ausprägung störende Folgen haben kann. Ein zu hoher IQ mag zu Besserwisserei führen. Ein zu hoher EQ macht möglicherweise anfällig dafür, ausgenutzt zu werden. Ein zu hoher VQ kann Rücksichtslosigkeit oder Machtgier auslösen, …

Erst diese ausgewogene Zusammenspiel stelle sicher, dass professionelles Arbeiten gelingt. Stattdessen werde oft nur so getan als ob. Empathie werde beispielsweise im Supermarkt Kaufland dadurch suggeriert, dass die Mitarbeiter nach dem Kassieren fragen: „War alles in Ordnung?“ Das machen die wirklich! Allerdings spürbar mechanisch lustlos. Ich habe mich da schon häufiger gefragt, welcher Manager sich das ausgedacht hat und wirklich glaubt, die Leute fänden das authentisch und überzeugend. Das scheinen die inzwischen allerdings sogar gemerkt zu haben, und wie sieht ihre Lösung aus? Damit das nicht so auffällt, wird man neuerdings alternativ auch gefragt: „Haben Sie alles gefunden?“

Das gibt es aber auch anderswo, davon habe ich kürzlich im Sammelband Das Internet der Zukunft berichtet. Viele Unternehmen haben ja Schwierigkeiten damit, mit dem seltsamen Verhalten von Kunden im Internet umzugehen. Es wird dann nach Rezept der Marketing-Literatur das Instrumentarium neu justiert, die Unternehmenskommunikation dialogisch angelegt und vielleicht ein Twitter-Konto eröffnet, aber wirklich zugehört wird dort niemandem. Der IQ ist offenbar da, aber an der Einstellung hat sich dennoch nichts geändert. Der EQ fehlt trotzdem und all die Maßnahmen laufen ins Leere oder lindern höchstens kurzzeitig die Symptome des Problems.

Woher nehmen?

Den Ansatzpukt auf dem Weg zur Professionalität sieht Herr Dueck im gesamten Bildungssystem, angefangen bei den Eltern über den Kindergarten, die Schule und die Universität bis hin zur betrieblichen Weiterbildung. Lernen werde lediglich als Verbesserung des IQs verstanden, der Rest solle halt irgendwie von allein mitwachsen oder durch Ratgeber mit Titeln wie Vital und überzeugend in 14 Tagen oder Zwei-Tages-Seminare für Führungskräfte vermittelt werden. Das geht nicht!

Und nun wird das Buch auf den ersten Blick so etwas wie ein Heimspiel für die vielen lieben Menschen, die ich auf den EduCamps kennenlernen durfte (warum das nicht ganz so ist, erkläre ich weiter unten). Das Bildungssystem müsse weg von Gleichschritt-Lehrplänen im Frontalunterricht oder uninspirierter Gruppenarbeit. Weg von Einheitsprüfungen für alle. Im Grunde werde dadurch nur der IQ gestärkt und geprüft, vorwiegend als Wissen. Für den übrigen Teil fühle sich aber niemand verantwortlich.

Unternehmen wüssten etwa, dass sie ihre Mitarbeiter beruflich auf der Höhe der Zeit halten müssen und diese eben nicht wie selbstverständlich die vielbeschworenen Schlüsselqualifikationen alle mitbringen. Es würden allerdings so etwas wie Professionalität nur als Ziel vorgegeben, ohne die dafür notwendigen Ressourcen zu lassen.

Auch an Schulen und Universitäten sei vor allem ein Kulturwandel notwendig, in dessen Folge viele eine ganz andere Rolle einnehmen müssten und das vielleicht gar nicht können.

Professionelle Bildung schafft eine Kultur des Gelingens. (S. 189)

Es geht um das individuelle Coachen und Fördern. Das ist natürlich schwieriger – dafür muss man ja selbst erst einmal ausreichend professionell sein. Und das kostet Zeit. Diese Zeit könnte man sich aber mit dem Internet verschaffen.

Wieso sollten sich die Lernenden den Stoff nicht zu Hause selbst aneignen, mit Podcasts, Videos (vielleicht sogar gemeinsam per Hangout), Planspiele für den Wirtschaftsunterricht, … In der Lehrveranstaltung bleibt dann Zeit zum Diskutieren und individuellen Coachen. In dieser Art macht da ja zum Beispiel Christian Spannagel mit seinen umgedrehten Mathematikvorlesungen.

Das Problem sieht Herr Dueck aber darin, dass solche Initiativen zu verstreut sind, um große Wirkung zu entfalten. Jeder macht sein eigenes Ding, es gibt Dinge doppelt, dafür fehlen andere, usw. Er wünscht sich eine zentrale Online-Plattform, auf der ganz viele verschiedene Inhalte in unterschiedlichsten Darbietungsformen angeboten werden können, damit sich jeder das wählen kann, was ihm am besten liegt.

Ein anderes Problem seien die vielen Vorbehalte, die es gibt. Das Internet werde immer noch häufig eher als Gefahr gesehen denn als Chance. Experten sähen ihre hierarchische Stellung in Gefahr: Die Lernenden würden nicht mehr in den wenigen anerkannten Quellen lesen, die ihnen eine Autorität empfohlen hat (vielleicht die eigenen). Sie würden vielmehr nach vielen Lehrmeinungen surfen und sich eine eigene bilden – und womöglich unbequeme Fragen stellen. Vielleicht will man ja auch gar keine selbständig denkenden Menschen, sondern doch lieber brav gehorchende, austauschbare Mitarbeiter.

Was getan werden muss

Es bringe gar nichts zu streiten, ob Menschen von Natur aus nun die arbeitsscheuen Faulen sind oder die freudig Strebsamen, das führe nicht weiter. Vielmehr schlägt Herr Dueck ausgehend von seinen Ausführungen eine Theorie P vor, eine Vorstellung dessen, wie alle Menschen sein sollten. Wohlgemerkt, nicht dass alle von Natur aus so seien oder restlos alle so werden könnten, aber dass dies ein erstrebenswertes Ideal sein könnte, auf das man hinarbeiten kann. Die Professionellen sollten den weniger Professionellen helfen, denn auch der Commodity-Bereich trägt zum großen Ganzen bei! Der Übergang zur Theorie P erfordere ein Umdenken hin zur Berücksichtigung aller Teilintelligenzen, viel Rückmeldung, individuelle Betreuung und eine persönliche Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden (finde, das ist kompatibel mit dem, was Gerald Hüther unter Supportive Leadership versteht; dass Herr Dueck fast immer von Gelingen spricht statt von Erfolg haben, spricht ebenfalls dafür).

Die Neugier wird durch den strengen Lehrplan stark beschränkt. Man erwartet allerdings, dass alle Kinder neugierig auf das sind, was der Lehrplan bietet – alles andere wird untersagt. […] Neugier ist Leidenschaft für das Unerwartete! Nicht Pflicht zum Interesse für Vorgekautes. (S. 238)

Diejenigen, die schon seit einiger Zeit Vorschläge in diese Richtung machen, speziell mit Blick auf das Internet, mahnt Herr Dueck jedoch zur Vorsicht. Als Early Adopter begingen sie den Fehler, ihre eigenen Ideen gleich zum allgemeinen Standard der Zukunft erheben zu wollen – blind für Anderes. Die eigentlich aufgeschlossene Mitte werde durch so viele verschiedene Vorschläge überfordert, ihre Einwände abgewiegelt und sie damit verprellt. Vielleicht fehlt es an AQ? Diese pragmatische Mitte müsse aber mitziehen, sonst würden die kategorischen Ablehner erst recht nie einlenken.

Die Internetgemeinde bloggte und twitterte zwar, aber eigentlich blieben sie doch irgendwie unter sich. Die Leute müssten aber rausgehen und Verantwortung übernehmen, etwas tun oder wenigstens im realen Leben predigen. Eben: „A little less conversation a little more action„. Ich glaube allerdings auch, an vielen Stellen passiert tatsächlich schon manches Spannende. Und vielleicht kann ich ja auf der LEARNTEC im kommenden Jahr auch noch ein wenig predigen.

Fazit

Mir hat das Buch gefallen, aber das könnte auch einfach daran liegen, dass viel davon meine eigene Sichtweise widerspiegelt. Einigen wird das Buch zu vereinfachend sein. Ich würde sagen, es ist pragmatisch und schlicht an ein breiteres normales Publikum gerichtet – das normal meine ich hier gar nicht abwertend, im Gegenteil. Wer es tiefgehender mag, findet aber in älteren Büchern von Herrn Dueck auch noch mehr Unterfütterung seiner Thesen.

Was ich auch schön finde: Das Buch hat mich zum Nachdenken angeregt. Auch wenn es unterhaltsam ist, behandelt es ein ganz wichtiges und ernstes Thema. Was bringe ich denn selbst an Teilintelligenzen mit? Da würde ich selbst klar einige Defizite diagnostizieren und an anderer Stelle ein wenig zu viel des Guten. So richtig professionell würde ich mich da selbst wirklich nicht einstufen.

Der Beitrag ist nun ganz schön lang geworden, aber im Buch steht wirklich noch viel mehr! Ich würde es noch einmal kaufen. Und das mache ich auch, ich werde zum nächsten EduCamp in Bielefeld (18.11.-20.11.) einfach noch ein Exemplar mitbringen und dort irgendwie an die Frau oder den Mann bringen, bei der/dem ich meine, es fällt auf fruchtbaren Boden.

Danke für’s Durchhalten bis zu dieser Stelle.