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Dreimal WikiLeaks

Am vergangenen Samstag habe ich mir die drei bisher verfügbaren Bücher über WikiLeaks aus dem deutschsprachigen Raum gekauft und nun gelesen. Dabei bin ich gewissermaßen „von innen nach außen“ vorgangen und rezensiere nun ganz kurz.

inside WikiLeaks

Den Anfang machte inside WikiLeaks von Daniel Domscheit-Berg. Der ehemalige Sprecher der Organisation, der im Herbst 2010 ausgestieg, berichtet darin von der aus seiner Sicht gefährlichsten Website der Welt. Seine Erzählung beginnt damit, wie er auf WikiLeaks aufmerksam wurde und in einem Chat seine Unterstützung anbot. Die wurde angenommen, er lernte Julian Assange kennen und wurde offenbar ein tragendes Mitglied. Im weiteren Verlauf berichtet Herr Domscheit-Berg einerseits davon, welche interessanten Erfahrungen er gemacht hat. Andererseits schildert er allerdings auch, wie sich WikiLeaks seiner Meinung nach immer mehr von den ursprünglich angestrebten Zielen und eigenen Prinzipien entfernte und er schließlich seinen Hut nahm und die Gruppe verließ.

Das Buch ist durchaus spannend, weil es Einblicke in die Organisation von WikiLeaks erlaubt und Einzelheiten ans Licht bringt, die bisher im Verborgenen lagen. So sei etwa die Größe der Organisation maßlos übertrieben worden und die IT-Infrastruktur zunächst ein Witz gewesen. Auch das vielschichtige Wesen von Julian Assange wird näher beleuchtet und es werden neue Details zutage gefördert. Der Gesamteindruck wird meiner Ansicht aber etwas getrübt durch die „Beziehungskiste“: Das Buch kommt mir zwar nicht wie eine Abrechnung mit einem ehemaligen Freund vor, aber irgendwie schlägt doch immer wieder so etwas wie ein vorwurfsvoller und unnötiger Jammerton durch, den man eher in einer Klatschzeitung vermutet hätte.

Staatsfeind WikiLeaks

Die SPIEGEL-Redakteure Marcel Rosenbach und Holger Stark schildern in ihrem Buch zunächst die Kindheit von Julian Assange und gehen auch auf die Hintergründe des Hackertums und der Cypherpunks ein. Erst danach widmen sie sich wirklich WikiLeaks und beschreiben die Entstehung der Organisation, wichtige Stationen und schließlich die politische und rechtliche Jagd auf Assange. Über diese Dokumentation hinaus diskutieren die beiden Redakteure beispielsweise Fragen nach höchstmöglicher Transparenz von Staaten oder die Rolle der Medien und des investigativen Journalismus.

Bei ihren Recherchen haben Rosenbach und Stark sich nicht nur auf schriftliche Quellen verlassen, sondern zusätzlich auch Interviews mit verschiedenen Beteiligten geführt, um ein stimmiges Gesamtbild zu erhalten. Und das ist meiner Ansicht nach gelungen. Das Buch liest sich ausgezeichnet, ist ausgewogen und liefert auch denjenigen noch neue Informationen, die sich schon näher mit WikiLeaks beschäftigt haben. Mein einziger Kritikpunkt wäre, dass bei den Quellennachweisen bei Online-Werken nicht gleich die zugehörigen Links angegeben wurden – vielleicht recherchiere ich die bei Gelegenheit mal und stelle sie zur Verfügung.

WikiLeaks und die Folgen

Bei WikiLeaks und die Folgen handelt es sich um einen Sammelband, der Einzelbeiträge verschiedener Autoren zur verschiedenen Oberthemen umfasst. So spannt sich das Buch von den Hintergründen über das Internet und die Medien bis hin zu Fragen der Diplomatie und der Demokratie und liefert recht unterschiedliche Perspektiven, die ich in Kürze nicht alle benennen kann.

Trotz der festgelegten Oberthemen wirkt der Band für mich ein wenig zusammengewürfelt, ohne roten Faden. Eine ordnende Einleitung des verantwortlichen Redakteurs gibt es leider nicht. Auch wenn ich WikiLeaks nicht gänzlich unkritisch gegenüberstehe, besonders der derzeitigen personellen Zentralisierung, sind mir stark vereinfachende Beiträge und schlicht Falschaussagen aufgefallen. So reduzieren beispielsweise die drei Aufsätze zur Diplomatie in meiner Lesart WikiLeaks auf die Veröffentlichung der diplomatischen US-Depeschen, und der ehemalige Botschafter John Kornblum behauptet, rund eine Viertelmillion davon wären publiziert worden – so viele liegen der Organisation angeblich vor, aber online zu finden sind heute gerade einmal 4532. Dass mitunter die Forderung nach Transparenz von Staaten fälschlicherweise mit der Aufhebung der Privatsphäre von Individuen gleichgesetzt wird, sei hier auch erwähnt.

Doch genug der Kritik, es finden sich bestimmt für jeden am Thema Interessierten einige spannende Einzelbeiträge, auch für mich. Nur insgesamt macht das Buch auf mich keinen runden Eindruck.

Und weiter?

Das Thema „Leaks“ und speziell WikiLeaks wird die Welt sicher noch eine Weile beschäftigen, und mindestens die Autobiographie von Julian Assange steht noch aus. Die könnte interessant werden, gilt er doch gleichzeitig als begnadeter Anekdotenerzähler und ebenso notorischer Flunkerer.

Erste Babyschritte in der Wissenschaftstheorie – Teil 2

Wie gestern versprochen, heute der zweite Teil meiner Zusammenfassung zu Martin Kornmeiers „Wissenschaftstheorie und Wissenschaftliches Arbeiten“, mit der ich mir einen Überblick über das Thema Wissenschaft(stheorie) verschaffen möchte. Heute geht es um einige Begrifflichkeiten, die man wohl kennen sollte. Nehmt euch etwas Zeit zum Lesen, auch dieser Beitrag ist etwas länger als sonst.

In einer wissenschaftlichen Arbeit trifft man stets Aussagen, die im Gegensatz zu einer Leerformel informativ sein müssen, um überhaupt falsifizierbar zu sein. Aussagen lassen sich verschiedenen Blättern eines Baumes zuordnen, wie man in folgender Abbildung sehen kann.

Aussagen (nach Nienhüser/Magnus und Raffée)

Aussagen (nach Nienhüser/Magnus und Raffée)

Zu den nicht wahrheitsfähigen Aussagen gehören einerseits die normativen Aussagen, die festlegen, was sein soll. Sie setzen Werte und können nicht anhand eines Wahrheitskriteriums geprüft werden. Sie lassen sich aber (stark vereinfacht) prüfen, indem man die Folgen der Ziele und Mittel diskutiert. Solche, die nicht aktzeptabel sind, sollten nicht umgesetzt werden. Empfehlungen heißen quasi-normativ, da sie nicht bindend sind. Zu den nicht-wahrheitsfähigen Aussagen zählen außerdem meta-physische Aussagen, da sie empirisch schlicht gehaltlos sind.

Laut Kornmeier sei die Betriebswirtschaftslehre eine praktisch-normative Disziplin. Normative Aussagen sind aber nicht wahrheitsfähig, wie wir hier sehen – sie sind also nicht falsifizierbar. Zuvor hatte Kornmeier behauptet, die Betriebswirtschaftslehre sei vor allem geprägt vom Konstruktivismus und vom kritischen Rationalismus, und letzterer fordert gerade falsifizierbare Aussagen, wie wir gestern gesehen haben. Wie passt das nun wieder zusammen? Die Frage bleibt offen.

Innerhalb der wahrheitsfähigen Aussagen unterscheidet man logische von empirischen Aussagen. Während erstere durch die Regeln der Logik überprüfbar sind, misst man die übrigen an der Realität. Man gliedert hier nochmals in drei Typen:

  1. technologische Aussagen: Sie geben überprüfbar an, mit welchem konkreten Mittel man ein Ziel erreichen kann (und damit auch, dass dies möglich ist), sie sind aber nicht normativ, weil sie keine Aussage darüber treffen, welches Mittel genutzt werden soll.
  2. deskriptive Aussagen: Sie beschreiben einzelne Sachverhalte (singuläre Ereignisse) zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Ihr Wahrheitsgehalt kann in der Realität auch von anderen Personen überprüft werden und somit Prognosen bestätigen oder widerlegen. (Antezedenz-Bedingungen)
  3. explikative Aussagen: Sie sind in gewisser weise ebenfalls deskriptiv, beziehen sich aber auf einen umfassenderen Ausschnitt der Realität und liefern auch Gründe für die Beobachtungen. In strenger Form als nomologische Aussagen sind sie nicht gebunden an Raum oder Zeit und daher allgemeingültig, jedoch sind auch stochastische oder „tendenzielle“ Aussagen möglich.

Nomologische Aussagen haben einen hohen Informationsgehalt, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass sie falsifiziert werden.
Stochastische Aussagen sind weniger einfach falsifizierbar, aber dennoch informativ und empirisch prüfbar – es erfolgt eine Abstraktion vom Einzelfall.
Tendenzielle Aussagen sind nicht deterministisch, nicht stochastisch (Abweichungen gehorchen keinem Verteilungsgesetz), unterstellen keine eindeutige Kausalität und sind daher eigentlich eine Vermutung. Da sie damit auch nicht empirisch überprüfbar sind, ordnen einige Wissenschaftler sie nicht der empirischen Aussage zu. Kornmeier führt sie auf, weil in der Betriebswirtschaftslehre oft mit Tendenzaussagen gearbeitet werde und sie zu quasi-stochastischen Aussagen werden, wenn sie in irgendeiner Weise quantifizierbar sind.
In Betracht kommen nach Kornmeier auch quasi-theoretische Aussagen, die durch Einschränkung des Gültigkeits- und Aussagebereichs entstehen – man könnte sagen „Wischi-Waschi-Aussagen“ mit sehr begrenztem Informationsgehalt.

Von Bedeutung ist das Zusammensetzen von Aussagen. Zum einen führt dies zu Erklärungen, bei denen zu einem gegebenen Ereignis (Explanandum) eine passende nomologische Aussage (Gesetzesaussage) mit einer Randbedingung (Antezedenz-Bedingung) angegeben wird. Also eigentlich nicht viel anders als beim Lösen von Differentialgleichungen :-) Im Gegensatz zur Erklärung sind bei der Prognose eine nomologische Aussage und eine Randbedingung bekannt, mit denen dann ein Ereignis vorhergesagt wird. Wir kennen also eine Funktion, setzen ein Argument ein und erhalten den zugehörigen Funktionswert.

Überaus wichtig bei der Betrachtung von Aussagen ist die korrekte Unterscheidung zwischen Korrelation und Kausalität! Eine statistische Beziehung kann auch zufällig bestehen und muss keine Ursache-Wirkung-Beziehung beschreiben. Und selbst dann, wenn es diese gibt, können intervenierende Variablen zwischengeschaltet sein oder beide gar von einer dritten Moderatorvariable abhängen. Kausalität besteht zwischen zwei Aussagen nur dann, wenn ein statistisch signifikanter Zusammenhang vorliegt, eine der beiden der anderen zeitlich vorausgeht und der Einfluss von Drittvariablen ausgeschlossen ist.

Kornmeier schließt den Abschnitt mit der Bedeutung für das wissenschaftliche Arbeiten (abseits der Wissenschaftstheorie), wozu ich nur folgende Zitate festhalten möchte:

Wissenschaftlich Arbeiten bedeutet nicht, jede in einer Publikation […] gefundene Aussage willfährig und obrigkeitsgläubig zu übernehmen (Motto: „Wenn der Herr Professor etwas schreibt, so ist dies immer richtig!“).

und

Entgegen der landläufigen Meinung sind Renommee und Bekanntheitsgrad von Autoren kein Garant für Reliabilität und Validität bzw. Informationsgehalt ihrer Aussagen. Der zwingend erforderliche kritische Umgang mit Aussagen darf deshalb auch vor Autoritäten und „Gurus“ eines Fachgebiets nicht halt machen.

Zu Definitionen ist nur zu sagen, dass sie dazu dienen, die Realität in Sprache zu fassen, um sich mit anderen austauschen zu können. Definitionen können nicht wahr oder falsch sein, allenfalls zweckmäßig oder nicht – letzteres dann, wenn sie dem allgemeinen Gebrauch entgegenstehen. Definitionen müssen eindeutig sein und konsistent genutzt werden, vollständig sind sie in der Regel nicht.

Hypothesen sind allgemeine Aussagen, die behaupten, es gäbe einen Zusammenhang zwischen mindestens zwei Variablen. Sie sind normalerweise theoretisch oder empirisch fundiert und sollen die Realität erklären. Es sind qualitative und quantitative Hypothesen denkbar. Dabei sollen sie zeitlich und räumlich nicht beschränkt sein und folgenden Kriterien genügen:

  • Empirische Überprüfbarkeit
  • Falsifizierbarkeit
  • Hinreichender Informationsgehalt
  • Logischer Aufbau
  • Präzision und Eindeutigkeit
  • Theoretische Fundierung

Möglichkeiten zur Gewinnung von Hypothesen sind:

  • Induktion (empirische Exploration),
  • Deduktion (eher Literaturstudium),
  • Hermeneutik (Wirk- und Sinnzusammenhänge durch Kontextbezug verstehen und erklären)
  • Abduktion („Annahme des Wahrscheinlichen“, „Suche nach der besten Erklärung“)

Die Abduktion soll besonders dazu geeignet sein, um neue Theorien zu entdecken. Wenn ich es richtig verstanden habe, entspricht die Abduktion dem Prinzip des Erklärens: es ist das Ereignis gegeben, und man sucht eine zu einem hypothetischen Gesetz passende Randbedingung.

Zum Schluss sind Modelle und Theorien dran. Verbindet man zusammenhängende bewährte Hypothesen, so erhält man ein Modell. Verbindet man wiederum mehrere zusammenhängende Modelle, erhält man eine Theorie. Zur Bildung müssen stets reale Sachverhalte in sprachliche Begriffe übersetzt werden, so dass Zusammenhänge ersichtlich werden.

Die Theorie steht in enger Wechselbeziehung zu Empirie und Praxis. So bildet Theorie einen Rahmen für empirische Forschung und wird an dieser geprüft und gegebenenfalls modifiziert. Die Theorie liefert Anregungen und mögliche Erklärungen für die Praxis und erhält von dieser Rückmeldung über die Wirksamkeit der Anregungen, was abermals zu einer Modifikation führen kann. Ferner liefert auch die Empirie Empfehlungen für die Praxis und erhält Rückmeldung aus der Praxis.

Zusammenspiel von Theorie, Empirie und Praxis

Zusammenspiel von Theorie, Empirie und Praxis

Häufig beleuchten verschiedene Theorien denselben Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven und überschneiden sich mitunter auch. In der Betriebswirtschaftslehre wären das beispielsweise Entscheidungstheorien, verhaltenswissenschaftliche Theorien oder Organisationstheorien bei der Betrachtung von Unternehmen.

Neben der Falsifizierbarkeit gehört die Reichweite zu den bedeutsamsten Kriterien, das heißt Theorien sollten sich über ein möglichst weites Feld erstrecken. Um dies zu erreichen – und um Komplexität zu reduzieren – kann man mit Annahmen arbeiten, riskiert dabei aber den Verlust der Falsifizierbarkeit, weil man sich zu weit von der Realität entfernt hat (Modell-Platonismus).

Formuliert man eine Theorie, nutzt man mitunter theoretische oder hypothetische Konstrukte, die Phänomene beschreiben, die nicht direkt zu beobachten sind, beispielsweise „Unternehmenskultur“ oder „Marktorientierung“. Diese Konstrukte lassen sich nur über mehrere Indikatoren prüfen.

Theorien unterliegen einem zeitlichen Wandel. So gibt es wie beim kritischen Rationalismus die Annahme einer kontinuierlichen (evolutionären) Entwicklung, bei der Bestehendes stetig modifiziert und verbessert wird. Kuhn (der ist schon in meiner Liste) vertritt hingegen auch die Auffassung einer diskontinuierlichen Entwicklung in Sprüngen oder Schüben. Er spricht vom Paradigmenwechsel oder einer Revolution.

Wieder ziemlich lang, vielleicht etwas trocken, aber damit haben wir die erste kleine Etappe auf unserer Suche nach „der“ Wissenschaft auch hinter uns.

Erste Babyschritte in der Wissenschaftstheorie – Teil 1

Vor zwei Wochen habe ich ja angekündigt, ich würde mich der Wissenschaft auf die Spur machen und von meinen Eindrücken berichten.

Erste Station meiner Reise war „Wissenschaftstheorie und Wissenschaftliches Arbeiten“ von Martin Kornmeier, eine Einführung speziell für Wirtschaftswissenschaftler. Damit wollte ich mir erst einmal einen groben Überblick verschaffen. Den Inhalt des Buches werde ich hier nicht komplett wiedergeben, aber wer Details haben möchte, kann sich meine Notizen in der Wikiversity ansehen.

Nach Kornmeier liegt der zentrale Unterschied zwischen Wissenschaft und Intuition oder Glaube darin, dass Meinungen, Positionen und Aussagen beschrieben und begründet werden müssen, was letztlich zu einem systematisch geordneten Gefüge von Sätzen führe. Nach Raffée beschreibt er dann drei verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten:

  • Wissenschaft als Tätigkeit als die systematische Gewinnung von Erkenntnis, um „unseren“ Vorrat an Wissen zu vergrößern. Das kann geschehen durch beschreiben (Deskription), erklären (Explikation), vorhersagen und gestalten, gegebenenfalls auch durch Werturteile abgeben, Kritik üben oder gar Utopien entwickeln. Wichtig ist bei allen Formen der Begriff systematisch. Außerdem müssen reale Tatbestände so untersucht werden, dass sie von anderen jederzeit nachvollziehbar und damit überprüfbar und kritisierbar werden. Die Ergebnisse sollten außerdem natürlich „wahr“ sein. Dies habe man zu prüfen, indem man seine Erkenntnisse mit der Realität konfrontiert.
  • Wissenschaft als Institution meint das System der Menschen und Objekte, das Erkenntnisse gewinnt. Als Beispiele werden Hochschulen und Forschungsinstitute genannt.
  • Wissenschaft als Ergebnis der Tätigkeit als Gesamtheit der Erkenntnisse über einen Gegenstandsbereich, die in einem Begründungszusammenhang stehen.

Hier stellten sich mir dann einige Fragen. Wenn Erkenntnisse stets mit der Realität konfrontiert werden müssen, ist nach dieser Definition Empirie dann nicht zwingender Bestandteil jeder wissenschaftlichen Tätigkeit? Oder hängt das möglicherweise damit zusammen, wie man Realität definiert? In unserer wirklichen Welt gibt es zum Beispiel keine Mathematik – man kann sie zwar auf reale Sachverhalte anwenden, notwendig ist das aber nicht. Könnte man hier sagen, die Mathematik ruht auf einem Axiomensystem und streng daraus abgeleiteten Regeln, die eine Realität (im Unterschied zu die Realität) abbilden? Bleibt bis hierher offen.

Eine weitere Frage dreht sich um den Inhalt von Wissenschaft, die für mich bisher daraus bestand, einerseits neue Erkenntnisse zu erforschen und diese andererseits auch zu lehren – als Einheit. Das mag also eine zu korrigierende Mindermeinung sein. Mal sehen, wie das andere sehen.

Etwas irritiert war ich außerdem noch von institutionalen Begriff nach Kornmeier beziehungsweise Raffée. Wenn man unter Wissenschaft tatsächlich nur den Forschungsbereich versteht, ohne Lehre, gerade dann dürften sich einzelne, die keiner Hochschule oder Forschungseinrichtung angehören, schließlich gar nicht Wissenschaftler nennen. Vielleicht führen aber an dieser Stelle auch bloß die genannten Beispiele auf die falsche Fährte.

Kornmeier präsentiert weiterhin eine Gliederungsmöglichkeit von Wissenschaft, die er ebenfalls von Raffée übernommen hat und in folgender Abbildung ersichtlich wird.

Einordnungsmöglichkeit von Wissenschaften

Einordnungsmöglichkeit von Wissenschaften (nach Raffée)

Wissenschaftsdisziplinen sind demnach entweder metaphysisch (wie Theologie oder Teile der Philosophie) oder nicht-metaphysisch. Letztere lassen sich wiederum in Formalwissenschaften (wie Logik, Mathematik und auch die Wissenschaftstheorie) und solche untergliedern, die sich mit realen Phänomenen beschäftigen und daher auch Realwissenschaften genannt werden. Dazu zählen Naturwissenschaften (wie Biologie oder Physik) und Kultur-/Geisteswissenschaften, wobei letztere vom Menschen Geschaffenes oder Gepflegtes untersuchen (Soziologie, Psychologie, Betriebswirtschaftslehre, und so weiter).

Wo ich oben nach der Definition einer wissenschaftlichen Tätigkeit schon Probleme mit der Mathematik hatte, verstärkt sich meine Skepsis nun bei den metaphysischen Disziplinen. Zum Einen befassen sie sich mit etwas außerhalb unseres Wahrnehmungsbereiches, lassen sich also in keinster Weise prüfen. Zum anderen wurde Wissenschaft von Glaube abgegrenzt, welcher bei Religionen ja essenziell ist. Wenn solche metaphysischen Disziplinen also der Wissenschaft zugerechnet werden, müsste man sie dann nicht den Kultur-/Geisteswissenschaften zuordnen? Schließlich setzen sie sich mit etwas vom Menschen Geschaffenen auseinander, beispielsweise heiligen Schriften. Sicher, man würde dann hier vermutlich das Argument erhalten, die Worte seien ja göttlichen Ursprungs – aber exakt dann landet man beim Glaube, da weder Beweis noch Widerlegung möglich sind.

Im Weiteren werden vier wesentliche erkenntnistheoretische Positionen beschrieben, die sich teilweise gegenüberstehen:

  1. (Naiver) Realismus: Es gibt eine von den Menschen unabhängige Realität, die man durch Wahrnehmung und Denken vollständig (oder zumindest in wesentlichen Teilen) erkennen kann. Die objektive Realität bezeichnet dabei die materielle Welt außerhalb des menschlichen Bewusstseins. Die subjektive Realität ist die rekonstruierte materielle Welt innerhalb des Subjekts Mensch. Abschließend bezeichnet die sprachliche Realität die Wiedergabe von Teilen der subjektiven Realität. Für die Empirie bedeute dies beispielsweise die Annahme, die Antworten aus Befragungen würden interpretiert als die Manifestation der „wahren“ Einstellungen, Absichten oder Verhaltensweisen der Befragten.
  2. (Radikaler) Konstruktivismus: Es gibt keine von den Menschen unabhängige Realität, sondern sie ist stets abhängig vom Betrachter. Jeder konstruiert auf Grundlage seines Wissens mithilfe der Sinneswahrnehmung sein eigenes Bild, eine subjektive Interpretation. Dies liegt daran, dass im Gehirn ein Verarbeitungsengpass im Hinblick auf die einströmenden Informationen besteht und somit stets nur ein Teil des Beobachteten tatsächlich wahrgenommen wird. Es findet eine Komplexitätsreduktion statt, um entscheidungsfähig zu bleiben – so kann jedoch kein vollständig rationales Verhalten gesichert werden, sondern nur ein begrenzt rationales bzw. subjektiv rationales. Empirie lieferte dann keine objektive Erkenntnis, sondern lediglich subjektive Konstrukte, die vom eigenen Wesen abhängig sind. In letzter Konsequenz wären dann gar keine wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich, weil die Wirklichkeit nicht direkt wahrnehmbar wäre.
  3. Empirismus: Die sinnliche Wahrnehmung (Erfahrung) ist die wichtigste Quelle menschlicher Erkenntnis. Eine Theorie ist die Zusammenfassung der durch möglichst zuverlässige Beobachtung gemachten Erfahrung, vom Besonderen auf das Allgemeine (Induktion). Problematisch ist hier, dass aus einer endlichen Menge an Beobachtungen kein allgemeingültiges Gesetz abgeleitet werden kann. Wichtige Weiterentwicklungen des Realismus sind der Positivismus und der Neopositivismus. Ersterer akzeptiert die Bedeutung von Empfinden und Bewusstsein, letzterer handelt von sogenannten Elementarsätzen.
  4. (Klassischer) Rationalismus: Form und Inhalt aller Erkenntnis gründen nicht auf sinnlicher Erfahrung, sondern auf Verstand und Vernunft. Einer Beobachtung muss immer eine Theorie vorausgehen, neue Erkenntnisse werden immer aus vorherigen abgeleitet, vom Allgemeinen zum Besonderen (Deduktion), unabhängig von Beobachtungen in der Realität.
    Klassischer Rationalismus und klassischer Empirismus unterscheiden sich zwar in der Art Erkenntnisgewinnung (Vernunft/Deduktion vs. Beobachtung/Induktion), suchen aber beide nach sicheren Fundamenten des Wissens. Beide sind in Reinform wohl nicht möglich.
    Der kritische Rationalismus kombiniert und erweitert den klassischen Rationalismus und den Neopositivismus. Menschen sind grundsätzlich fehlbar (Fallibilismus), daher sind Ergebnisse nicht unumstößlich. „Alles Wissen ist Vermutungswissen“ nach Popper. Man soll nach Hypothesen suchen, die falsifizierbar sind (und durch Überprüfung an der Realität scheitern können) und einer logischen Prüfung auf Widerspruchsfreiheit standhalten. Lässt sich eine Theorie nicht widerlegen, gilt sie als vorläufig richtig.
    Vorgehensweise: Für ein in der Realität beobachtetes Problem formuliert man einen Lösungsvorschlag in Form von Hypothesen. Durch empirische Tests werden dann Hypothesen falsifiziert und damit eliminiert oder vorläufig bestätigt und wieder durch weitere Hypothesen ergänzt. Nach und nach schälen sich „Gesetzesaussagen“ heraus, die sich in der Realität bewährt haben.

Für eine Einführung ist der knappe Umfang sicher angemessen, aber leider liefert Kornmeier nicht einmal stichwortartig weitere Strömungen, die es sicher gibt. Auch nennt er außer Popper und Lorenzen keine Hauptvertreter, bei denen man sich zu den einzelnen Erkenntnistheorien weiter „aus erster Hand“ schlau machen könnte, aber da habe ich ja auf meiner Route schon ein paar Stationen angegeben.

Speziell die Ausführungen zum kritischen Rationalismus scheinen darauf hinzudeuten, dass sich in der Wissenschaft offenbar Theorie und Empirie zwingend bedingen. Hier stellt sich mir die Frage, ob nach einhelliger Ansicht beides in Personalunion geschehen muss oder innerhalb der Definition von Wissenschaft eine Art Arbeitsteilung stattfinden kann. Es gibt schließlich auch Forscher, die ausschließlich konzeptionell arbeiten und sich nicht mit Empirie beschäftigen.

Das Buch behandelt folgend Aussagen, Definitionen, Hypothesen, Modellen und Theorien. Da dieser Blogbeitrag schon recht lang geworden ist, dazu morgen mehr.