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Wirbel um Hattie

Nachdem ich vor einer Weile im Literaturverzeichnis eines Sammelbandbeitrags bereits auf den Namen John Hattie aufmerksam geworden war, wurde er über einen Beitrag der ZEIT gestern auch in meine Twitter-Timeline gespült. Hattie hat 2009 ein Buch namens Visible Learning veröffentlicht, in dem er die Ergebnisse einer groß angelegten Meta-Meta-Analyse zu Erfolgsfaktoren des Lernens darstellt. Insbesondere präsentiert er anhand von Mittelwerten ein Ranking möglicher Einflussfaktoren und sortiert sie von „Was schadet“ bis hin zu „Was richtig hilft“.

Zu den Dingen, die für den Lernerfolg schädlich sind, zählt laut Hattie etwa das Sitzenbleiben in der Schule, nur geringe Wirkung hätte beispielsweise die finanzielle Ausstattung. Offener Unterricht oder webbasiertes Lehren und Lernen seien weder förderlich noch nachteilig. Unter den Dingen, die richtig helfen würden, befinden sich LehrerInnen-Feedback (nicht durch Zensuren), problemlösender Unterricht und vor allem ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrkraft und SchülerInnen.

Erstes Abwägen

Einerseits könnte ich schnell geneigt sein, genau zu rufen. Vor einer Weile wurde ich nämlich um eine Stellungnahme zu einer Forderung nach stärkerer Bildungsfinanzierung gebeten und sagte, dass in meinen Augen die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden bedeutsamer sei als die Struktur von Studiengängen oder die Höhe der verfügbaren Geldmittel. Andererseits habe ich das Buch von Hattie noch nicht gelesen und mache mir gerade nur auf Grundlage des ZEIT-Artikels Gedanken.

Vorsichtig bin ich zunächst, weil als Zielkriterium der Lernerfolg genannt wird und mir noch nicht klar ist, was damit konkret gemeint ist. Wenn lediglich anhand von Zensuren gemessen wurde, würde ich etwa einwenden, dass Bildung mehr ausmacht als gutes Abschneiden in Klausuren. Außerdem würde ich die Diskussion um so etwas wie Professionelle Intelligenz anführen.

Kritik von anderer Seite beschäftigt sich mit der Interpretation der Statistik. Hans Brügelmann mahnt etwa zur Vorsicht, lediglich die Mittelwerte zu vergleichen und den Kontext aus den Augen zu lassen. Der gemessene mittlere Effekt des Computereinsatz sei beispielsweise mäßig, er  kann aber unter bestimmten Umständen deutlich ansteigen – wenn die Lernenden ihr Vorgehen selbst steuern können und zusammen mit einem Partner oder einer Partnerin arbeiten.

Als Konsequenz hieße das, wenn ich mich als Lehrender verstärkt um die nach Hattie förderlichen Elemente bemühe, dann erhöhe ich lediglich die Lernerfolgswahrscheinlichkeit. Eine Garantie erhalte ich nicht und kann auch damit ein Umfeld schaffen, in dem viel schief geht. Dennoch bergen die Ergebnisse der Studie wohl auf jeden Fall Anhaltspunkte, was mit Blick auf den Lernerfolg zu berücksichtigen ist.

Was heißt das beispielsweise für LdL?

Auch wenn ich das Buch noch nicht gelesen habe, habe ich mir bereits erste Gedanken dazu gemacht, wie das Konzept LdL wohl abschneidet. Das erste zaghafte Ergebnis: doch ganz gut, auch wenn der Ansatz natürlich kein Allheilmittel ist und nicht zu jedem Lehrenden passt.

Bei Hattie findet sich beispielsweise lehrergeleiteter Unterricht bei den Faktoren, die ziemlich weit oben im Ranking stehen. Damit meint er nicht, dass Vorträge gehalten werden sollen, aber durchaus das Geschehen bewusst gesteuert werden muss. Bei LdL heißt das: „Regie führen“. Der Lehrende lässt dabei trotz Gewähren von Freiraum nicht alles offen, sondern muss sich darum bemühen, dass die Lernenden auch beim Einschlagen von Umwegen schließlich am Ziel ankommen.

Zu dem, was richtig hilft, gehören Lehrerfeedback, problemlösender Unterricht und das bereits hervorgehobene vertrauensvolle Verhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden. Rückmeldungen erhalten Schüler bei LdL permanent. Problemlösend ist das Konzept nicht zwingend ausgerichtet, aber dieser Weg ist bei der Form des Aktiven Plenums ziemlich zentral. Eine gutes Verhältnis fördert der Einsatz von LdL nicht automatisch. Anderseits wird jemand ohne Interesse an einer Beziehung zu den Lernenden vermutlich LdL sowieso nicht einsetzen oder damit scheitern.

Mehr vielleicht demnächst, wenn ich das Buch in Händen halte.

Ist die Bildung noch zu retten?

Diese Frage stellt sich Josef Kraus in seinem gleichnamigen Buch, das ich gerade gelesen habe. Der Leiter eines Gymnasiums in Bayern fordert eine Befreiung der Bildung vom reinen Nutzdenken; klingt doch gut. Was ich insgesamt an der Streitschrift auszusetzen habe, ist der Fokus auf Strukturen und Inhalte, nicht aber auf das, was in den Klassen und zu Hause geschieht: das Miteinander zwischen Schülern, Lehrern und Eltern. Aber das mag schlicht eine Macke von mir sein, mir kommt dieser Aspekt einfach häufig zu kurz.

Bei diversen Argumenten konnte ich Herrn Kraus jedenfalls zustimmen, etwa bei seinem Plädoyer gegen Denglisch (ab S. 113) oder für mehr Toleranz von Mehrdeutigkeiten (S. 18), man könnte es auch den Umgang mit Unsicherheit nennen. An einigen Stellen stutzte ich allerdings, würde zumindest intuitiv widersprechen wollen und hätte daher einige Fragen. Vielleicht hat jemand von euch gute Antworten? Ich werde an dieser Stelle nicht alles diskutieren – dann würde der Beitrag noch länger werden, als er ohnehin schon ist – aber die drängendsten Punkte von meiner Seite reiße ich einfach mal ganz kurz an.

  • Die effektivste Lehrform in Bezug auf Leistung sei die direkte Instruktion, so Kraus. Er beruft sich dabei auf zwei Publikationen von Franz Weinert aus dem Jahre 1996, die von ihren Titel her inhaltlich aber dasselbe zu beinhalten scheinen. Leider habe ich auf die Beiträge noch keinen Zugriff, aber unabhängig davon frage ich mich: Selbst wenn das stimmt, sollte Leistungsfähigkeit (wie auch immer Herr Kraus das definiert) das einzige Kriterium sein, um die Effektivität von Lehre zu messen? Widerspricht er sich damit nicht selbst, wenn er an anderer Stelle fordert, man dürfe nicht nur auf das schauen, was hinten herauskommt?
  • Im Bereich der Hirnforschung beschäftigt man sich seit einiger Zeit auch mit dem Thema Lernen. Herr Kraus findet das offenbar ziemlich überflüssig (S. 69-74). Zum einen kritisiert er, konkrete Aussagen für das Lehren ließen sich daraus nicht ziehen und Neurodidaktik oder Neuropädagogik seien reine Marketingbegriffe – das lässt sich sogar nachvollziehen. Er moniert aber auch, die Ergebnisse seien Allerweltsweisheiten und bestätigten allenfalls das, was Pädagogen sowieso schon wüssten. Frage an Herrn Kraus: Hätte Isaac Newton sich überhaupt die Mühe machen sollen zu ergründen, wie es sein kann, dass Dinge auf die Erde fallen? Dass sie das machen, ist ja trivial und weiß jeder. Heute nennen wir den Grund einfach Gravitation. Sollten viele Physiker heute also ihre Bemühungen aufgeben zu erklären, wie Gravitation im Detail funktioniert? Ist die Frage nach diesem Wie überflüssig??? Oder anders: Die vollständige Bestätigung einer Theorie ist nie möglich. Sollte man gerade bei einem auch für Herrn Kraus so wichtigen Thema auf neue Herangehensweisen und Untersuchungen verzichten, die unabhängige Vergleiche zwischen Beobachtungen und damit neue Erkenntnisse liefern können?
  • Zum Thema Nervenzellen schreibt Herr Kraus: „Denn ein einzelnes konkretes Individuum hat rund 120 Milliarden Nervenzellen, jede von diesen Nervenzellen interagiert mit bis zu 15 000 anderen Nervenzellen. Die Gesamtzahl der Verbindungen liegt bei rund 1 000 000 000 000 000 (1 Billiarde; eine 1 mit 15 Nullen). Insgesamt übertrifft diese Zahl die Anzahl der Atome im gesamten Universum.“ (S. 70). Nicht nur, dass mir 10^{15} ein wenig sehr klein vorkam – und tatsächlich schätzt man die Anzahl der Atome im Universum wohl eher auf rund 10^{80} – was ist denn das für eine Logik? Die Verbindungen zwischen Nervenzellen bestehen auch aus Atomen, wie sollte deren Zahl dann größer sein als die Zahl der Atome im Universum insgesamt? Hakt es bei mir irgendwo oder bei Herrn Kraus mit dem Abschätzen eines Problems?
  • Herr Kraus hebt die Bedeutung der Unterrichtsfächer Geschichte und Religion (damit meint er das Christentum) hervor, da sie einer Person helfen könnten, die Welt und sich selbst zu verstehen (S. 93-112). Grundsätzlich sicher nicht falsch. Wenn also viel mehr Geschichte unterrichtet werden müsste, wo ist das unterzubringen? Und wie sieht es erst in 50 Jahren aus, wenn es noch mehr Geschichte zu lernen gibt? Wieso hat christliche Religion eine Sonderstellung? Ja, Deutschland ist natürlich geprägt davon, aber müsste man nicht ebenso viel über andere Religionen lernen, die anderen Kulturkreisen ihren Stempel aufgedrückt haben und deren Verständnis in einer immer kleiner werdenden Welt wichtiger werden? Könnte man das nicht tatsächlich in einem neutralen Fach zusammenfassen? Und nein, Gottlosigkeit kappt in meinen Augen keine Wurzeln zur Moral in der Rechtsordnung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kommt auch prima ohne religiöse Bekundungen aus.
  • Laut Herrn Kraus laufe bilingualer Unterricht auf eine zweifache Halbbildung hinaus (S. 113). Ich hatte von Klasse 7 bis 11 Erdkunde und Geschichte teilweise in Englisch, und ich wage zu behaupten, mit meinem Englisch muss ich mich wahrlich nicht vor anderen verstecken, welche die reine Lehre erfahren haben. Und in Erdkunde und Geschichte bin ich immerhin nicht ganz zurückgeblieben, glaube ich.
  • Herr Kraus schreibt: „An 50 von 2500 Gymnasien in Deutschland gibt es eigene Klassen für Hochbegabte. Unumstritten sind diese Klassen nicht, denn ob in sich geschlossene Gruppen der Entwicklung von Minderjährigen guttun, ist fraglich. Immerhin haben Schüler solcher Klassen wie in einer Art Laborraum kaum noch mit ‚Normal‘-Schülern und deren Anliegen zu tun.“ (S. 134) Herr Kraus spricht sich gleichzeitig aber drastisch gegen Gesamtschulen und für eine frühzeitige Trennung auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium aus (S. 52-59). Ich bin keinesfalls für Gleichmacherei, kein vehementer Verfechter der Gesamtschule (sondern von Vielfalt), aber widerspricht sich Herr Kraus mit seinen Aussagen nicht selbst?
  • Mit seinen Ausführungen zu Europa gleitet Herr Kraus meiner Meinung nach vom Thema Bildung ganz schön ab (an vielen anderen Stellen aber auch). Er schreibt: „Europa muss also endlich wieder ein vitales Interesse an seiner Selbstverteidigung haben. Freilich wird diese nur gelingen im Verein mit den USA.“ (S. 114). Ich erlaube mir vor dem Hintergrund eines völkerrechtswidrigen Krieges gegen den Irak oder der Missachtung der staatlichen Souveränität von Pakistan durch militärische Intervention eine ebenso abseitige Frage danach, warum solch ein Staat der Verbündete schlechthin sein sollte?
  • Durfte ja auch nicht fehlen: Böse Rockmusik und Egoshooter sind für den Niedergang mitverantwortlich (S. 200)… Keine Gegenbeweise, aber unterhaltsam und interessant: Von den bösen Auswirkungen den Heavy Metals und Gewalt durch Computerspiele? Wissenschaftler sagen jein.

Soweit zu den drängendsten Punkten von meiner Seite. Zum Abschluss würde ich aber eines noch gerne festhalten, da es diesbezüglich schon zu Missverständnissen gekommen zu sein scheint: An verschiedenen Stellen benutzt Herr Kraus die Begriffe Spaß-, Gefälligkeits- und Erleichterungspädagogik. An einer Stelle ergänzt er, Lernende hätten eine Holschuld (S. 44). Ich stimme zu: Lernen ist auch mal anstrengend und bedarf der Eigenverantwortung. Herr Kraus schreibt aber nicht, dass Lehrende von der Pflicht entbunden wären, ihr eigenes Wissen didaktisch aufzubereiten oder bei der Darbietung möglichst individuell auf die Lernenden einzugehen. Ebenso spricht er Lehrende nicht von Verantwortung für das Fortkommen ihrer Schützlinge frei. Und dass Lernen nie Spaß machen dürfte oder nur gut sei, wenn es keinen Spaß mache, schreibt er auch nicht.

Tiger-Mom! Oder doch nur ein armer schwarzer Kater?

Einige Monate bin ich zwar der Debatte hinterher, aber nun habe ich Die Mutter des Erfolgs (Originaltitel: Battle Hymn of the Tiger Mother) von Amy Chua gelesen – getreu dem Ausspruch

Unter die größten Entdeckungen, auf die der menschliche Verstand in den neuesten Zeiten gefallen ist, gehört meiner Meinung nach wohl die Kunst Bücher zu beurteilen, ohne sie gelesen zu haben.

von Georg Christoph Lichtenberg aus dem 18. Jahrhundert. Worum geht es dabei?

Amy Chua ist die Tochter chinesischer Einwanderer in den USA und wurde sehr streng und leistungsorientiert erzogen. Es galt stets die Beste zu sein, andernfalls waren ihre Eltern nicht zufrieden und forderten mehr. Sie nutzte denselben autoritären Erziehungsstil bei ihren beiden Töchtern Sophia und Louisa. Beide wurden unter Strafandrohungen und manchmal auch folternahen Methoden (Verbot des Trinkens) zum Musizieren gezwungen und hart gedrillt, der gesamte Alltag danach ausgerichtet, haarklein vorgeschrieben, wie der Übungsablauf auszusehen habe. Bei Freundinnen übernachten, Computerspielen oder im Schultheater mitspielen? Waren nicht drin.

All das beruht auf verschiedenen Prämissen: Der Gedanke „wer nicht das mache, was die Eltern (oder höher Gestellte) sagen, renne unweigerlich ins Verderben“ entstammt vermutlich der kulturellen Prägung des Konfuzianismus. Die Aussage, Kinder hätten grundsätzlich keine Lust, sich anzustrengen, erinnert an die Menschenbildtheorie X nach Douglas McGregor. Woher der Gedanke „Spaß macht gar nichts, solange man nicht gut darin ist“ (S. 35) stammt, wüsste ich nicht (und könnte es auch anhand vieler Beispiele widerlegen), aber er beleuchtet den Hintergrund. Nun kann man davon halten, was man will, das Vorgehen von Frau Chua scheint jedenfalls ausgehend davon konsistent zu sein und keinesfalls ein Beleg dafür, dass sie ihre Kinder nicht liebt! Sie will das aus ihrer eigenen Sicht Beste für sie – und bei sehr kulturell geprägten Themen bin ich eher zurückhaltend, wenn ich darin keine tieferen Einblicke habe.

Einen gewissen Erfolg kann man der Methode ja auch nicht absprechen: Beide Kinder sind überaus begabte Musikerinnen. Auch werden die exzellenten Schulnoten angeführt und als Beispiel das hervorragende Abschneiden in Multiplikationsgeschwindigkeitstest genannt. Wenn man sich das anschaut, stellt man allerdings fest: Reproduktion und fest vorgegebenen Abläufe. Auf sehr hohem Niveau zwar, aber irgendwie schimmert da der Mensch als Automat durch. Sie selbst sagt von sich: „Auch war ich keine, die von Natur aus skeptisch ist und hinterfragt; ich wollte einfach alles mitschreiben, was der Professor sagte, und auswendig lernen.“ (S. 38).

Erlebt habe ich das schon selbst: Sieht man von einem denkbaren Sprachproblem ab, können Studierende mit asiatischem Hintergrund oft phänomenal die Stichpunkte der Vorlesungsfolien meines Chefs in den Klausuren runterbeten, allerdings scheitern sie dennoch häufig an Anwendungs- oder Transferaufgaben. Gerade vor kurzem erst hatte ich ein Gespräch mit einem Studenten asiatischer Herkunft. Seine Eltern hätten ihm immer Ziele vorgegeben, er kommt nun aber gar nicht mit der Freiheit klar, dass er selbst Ziele setzen darf und soll. Selbst eine Fragestellung für eine Abschlussarbeit zu entwickeln und zu formulieren, der er dann nachgehen kann, fiele ihm schwer.

TIGR MOM TOLD ME 2 LERN

TIGR MOM TOLD ME 2 LERN

Was in Bezug zu dieser Problematik in der Berichterstattung häufig vernachlässigt wurde, sind die Zweifel, die Frau Chua selbst kamen und letztlich der Beweggrund für das Schreiben des Buches waren. Sie geht zwar nicht im Detail darauf ein, berichtet aber, wie ein Geigenlehrer mit einer sanften Methode erfolgreicher war als sie selbst – bei gleichen inhaltlichen Vorgaben. Als sie ihr Mathestudium abbrach, war sie selbst froh, dass ihre Eltern sie nicht quälten, sondern eine Überforderung attestierten. Der eigentliche Punkt, um den sich das Buch dreht, sind aber die Probleme mit Tochter Louisa. Zwar wurde sie eine sehr gute Violinistin, aber sie fühlte sich unverstanden und rebellierte mit der Zeit immer stärker gegen die Erziehungsmethode von Frau Chua. Als diese ihre Mutter um Rat ersuchte, erhielt sie für sie unverständlicherweise die Antwort: „Die Zeiten haben sich geändert. Und Lulu ist nicht du.“ (S. 186). Davon unbeeindruckt blieb sie stur, gab jedoch zu: „In chinesischen Familien ist dieses Problem nicht vorgesehen, und ich hatte keine Lösung.“ (S. 190)

Erst als es zu einem großen Knall kam, gab sie nach. Louisa wurde nicht weiter zum Geigespiel gezwungen und durfte stattdessen Tennis spielen, wie sie es sich gewünscht hat. Trotz fehlenden Drills durch fremde Personen hat sie sich wohl zum Erstaunen von Frau Chua zu einer passablen Tennisspielerin entwickelt, die sich selbst motiviert. Sie ist offenbar nicht weltklasse, aber hat trotzdem Spaß.

Was ich mit den Ausführungen nicht sagen will ist „Siehst’e, hat sie alles falsch gemacht“ – das glaube ich nämlich nicht. Beim Tennislernen schien ihre Tochter die Lehrer etwa durch hohe Selbstdisziplin zu beeindrucken. Und Frau Chua hat sich vor allem sprichwörtlich den Arsch aufgerissen. Sie hat nicht nur viel gefordert, sondern auch extrem gefördert! Sie hat nicht einfach übermäßig hohe Ziele gesetzt und dann gesagt: „Sieh zu, wie du sie erreichst. Ich habe damit nichts zu tun, das ist deine Aufgabe.“ Sie hat sich ebenso dafür verantwortlich gefühlt und sich reingehängt – allerdings wohl etwas zu sehr. Und das hatte unerwartete Konsequenzen, die sie selbst nicht ganz einsortieren konnte.

Kurzum: Das Buch lässt sich zwar oberflächlich auch als uneingeschränkter Appell für eine „chinesische“ Erziehung lesen, aber auf mich macht es eher den Eindruck, als sei sie trotz anders lautender Bekundungen nicht (mehr) so ganz davon überzeugt. Therapeutisches Schreiben umschreibt es daher vielleicht eher.