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Professionelle Intelligenz für EduCamper

Zusammen mit Birgit Rydlewski habe ich heute auf dem EduCamp in Bielefeld eine Session zum Thema „Professionelle Intelligenz“ (nach Gunter Dueck) angeboten. Birgit ging mit anderen Teilnehmern der Frage nach, ob und wie sich die Idee der Professionellen Intelligenz in Schulen umsetzen lässt; ich habe dazu den Einstiegsinput geliefert und moderiert. Ein paar Gedanken hat Birgit festgehalten.

Zum Schluss habe ich mein Versprechen eingelöst, das ich am Ende meiner Zusammenfassung des Buchs von Herrn Dueck abgegeben habe: Ein Exemplar von „Professionelle Intelligenz“ habe ich verschenkt. Da aber das Interesse auch nach der Session noch groß war, mache ich Folgendes: Ich besorge noch ein Exemplar, und wir bilden eine Kette. Jeder Bielefelder EduCamper kann mir bis zum nächsten Sonntag (27.11.2011) seine Anschrift schicken. Ich versende dann das Buch an den ersten Kandidaten und jedem die Adresse desjenigen, an die er das Buch nach dem Lesen schicken soll. So müsste irgendwann jeder einmal drangewesen sein, und wir können das Buch dann einfach auf dem nächsten EduCamp verlosen oder so.

Würde mich freuen, wenn ihr nach dem Lesen eure Gedanken im Kommentarbereich zu meiner Zusammenfassung verewigt oder vielleicht selbst einen Blogbeitrag schreibt.

Professionelle Intelligenz

Nachdem ich vor rund einem halben Jahr das Buch Aufbrechen! Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen von Gunter Dueck gelesen hatte, wartete ich mit Spannung auf sein neuestes Werk: Professionelle Intelligenz – Worauf es morgen ankommt. Das habe ich nun gelesen, und da es sicher auch für andere interessant ist, werde ich einen kleinen Spagat versuchen. Einige Aspekte möchte ich hier im Blog aufgreifen, so dass man die Ideen versteht, aber auch nicht so viel verraten, dass sich niemand mehr das Buch kauft. Wäre schade. In Kürze kann ich das nämlich gar nicht alles wiedergeben, und dann heißt es nachher, das wäre ja alles viel zu einfach geschildert. In dem Buch steht viel mehr drin, ausführlicher und mit vielen Beispielen garniert. Also mal sehen, ob mir mein Vorhaben gelingt.

Der Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der Diskussion ist das, was in Aufbrechen! bereits von Herrn Dueck beschrieben wurde. Die Arbeitswelt wandelt sich. Dienstleistungsberufe werden auf Effizienz getrimmt und automatisiert, wie man das schon aus der Industriebranche kennt. Und verantwortlich ist das Internet.

Sogenannte Experten wie Ärzte, Finanzberater oder auch Professoren verlieren schlicht ihren Machtvorteil, wenn er sich nur aus einem kleinen Informationsvorsprung speist. Der Pool an Wissen ist schließlich im Internet viel größer, und auf den kann man ganz einfach zugreifen. Ich brauche bei einfachen Dingen ja zum Beispiel niemanden dafür, um mir die möglichen Auswirkungen einer Krankheit zu nennen oder die Preisstaffelung für eine Versicherung. Das kann ich selbst online nachlesen, dafür bezahle ich kein Geld. Und bei speziellen Fragen müsste der Durchschnittsdienstleister auch nachforschen. Wie viele Menschen sterben eigentlich an Krankheit X bei Behandlungsmethode Y? Wie schlägt sich Aktie Z aus Brasilien? Das weiß ich vermutlich besser, wenn ich vorher kurz gegoogled habe. Ohne Zugang zur internen Datenbank, zum Internet oder zu Kollegen sind diese Experten dann auch aufgeschmissen. Das habe ich gerade selbst schmerzlich erlebt bei einem Telefonat mit einer großen deutschen Bank.

Wissen WAR Macht – es gibt kein Herrschaftswissen mehr (S. 37)

Was übrig bleibt, sind die wirklich schwierigen Fälle, die sich nicht so einfach rationalisieren lassen. Standardsachen fallen weg. Impfen? Weg. Macht der Impfspezialist, der auch alle Impfstoffe immer vorrätig hat, günstiger ist und bei dem man nicht noch lange warten muss. Daran verdient der normale Arzt dann kein Geld mehr. Klassische Frontalvorlesungen zu Grundlagenthemen? Weg. Da kann ein rhetorisch guter Professor einmal Videoaufzeichnungen machen, und die kann sich dann jeder wann, wo und wie oft er will online anschauen.

Wir bekommen eine massive Spaltung in Premium und Commodity, in Hochwertiges und Massenware – und das eben auch dort, wo viele sich vielleicht in Sicherheit wiegen. Was im Premium-Bereich gefragt ist, sind Professionals, die selbständig in komplexen großen Netzen arbeiten.

Die Arbeitswelt

Diese Entwicklung verlangt nun zweierlei. Zum einen müssen Unternehmen natürlich Geld verdienen im Tagesgeschäft, zum anderen müssen sie sich aber ständig den sich wandelnden Gegebenheiten anpassen. Die einen Mitarbeiter arbeiten im System, die anderen am System. Und das gleichzeitig, da kann es zu Problemen kommen. Ein Chirurg würde sicher auch gerne erst den Kreislauf des Patienten anhalten, dann operieren und im Anschluss den Körper wieder weiterarbeiten lassen, aber das geht nicht. Damit also die OP am offenen schlagenden Herzen gelingt, werden in beiden Bereichen besondere Persönlichkeiten verlangt:

  • Die Professionals im System sollten T-Shape-Spezialisten sein, die über ein tiefes Wissen verfügen, aber auch in der Breite vernetzt zu anderen Bereichen sind, also keine Fachidioten. Sie müssen sich in ihrer Materie auskennen, aber auch über einen Blick auf das Ganze verfügen.
  • Die Professionals am System, die Keystones, sollten sich um das Entwickeln dieses großen Ganzen kümmern und den Wandel vorantreiben. Sie bringen Menschen netzartig zusammen und sind für das Gelingen der Zusammenarbeit verantwortlich.

Diese Professionals müssen nach Herrn Dueck in einem Umfeld agieren, in dem eine gesunde Balance zwischen Kooperation und Wettbewerb notwendig ist (Coopetition). Darüber hinaus sagt er, es finde eine Verschiebung von Werten statt. Die Arbeitswelt leiste noch erheblichen Widerstand gegen die Umbrüche, die das Internet mit sich bringt, gegen die Vorstellungen der Digital Natives. Die würden sich unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie Dinge einfach ausprobieren, zügig entscheiden und bei Fehlschlägen einfach von vorne anfangen. Scheitern sei keine Schande – erinnert das noch jemanden an die Neuronenmetapher von Jean-Pol Martin, die den Unterricht nach LdL charakterisieren könnte? Die Digital Immigrants kämen damit aber nicht so gut zurecht. Der Vollständigkeit halber weise ich hier auf eine etwas andere Unterteilung von David White hin, in Digital Residents und Digital Visitors. Die hat etwa auch Peter Kruse auf einem Vortrag auf der re:publica 2010 benutzt.

Soweit das Vorgeplänkel. Was soll nun diese Professionals ausmachen? Sie sollen die Fähigkeit haben, etwas Erstklassiges zu erschaffen. Sie sollen professionell intelligent sein.

Professionelle Intelligenz

Unter professioneller Intelligenz versteht Herr Dueck weit mehr als das, was man landläufig mit einem IQ-Test misst. Der prüft nämlich nur so etwas wie Sprachkompetenz, Merkfähigkeit und logisches Denken. Bisher war der ermittelt Wert, der IQ, wohl recht gut mit Leistung in der Schule oder dem Erfolg im Beruf korreliert, aber das ändere sich gerade. Es wird künftig und auch schon jetzt viel mehr gefordert: Einfallsreichtum, Phantasie, Sinnstiftung, Teamfähigkeit, Führungsstärke, usw. Das hat mit dem IQ nicht mehr viel zu tun.

Nach Herrn Dueck bedarf es einer ganzheitlich entwickelten, maßvollen professionellen Intelligenz, die sich aus verschiedenen Teilintelligenzen zusammensetzt (pragmatisch hergeleitet, nicht streng wissenschaftlich):

  • IQ – die normale Intelligenz des Verstandes: Planen, Ordnen, Formulieren, usw.
  • EQ – die emotionale Intelligenz des Herzens und der Zusammenarbeit, wie man sie etwa von Daniel Goleman kennt: andere verstehen, Teamfähigkeit, usw.
  • VQ – die vitale Intelligenz des Instinktes und des Handelns: Durchsetzungsfähigkeit, Bauchgefühl, Risiken eingehen, …
  • AQ – die Intelligenz der Sinnlichkeit (attraction) und der instinktiven Lust und Freude: Sinn für Schönheit, Ästhetik, Verzauberung, etwas an den Mann/die Frau bringen können, usw.
  • CQ – die Intelligenz der Kreation (creation) oder der intuitiven Neugier: Liebe zu Innovation, entfesseltes Denken, usw.
  • MQ – die Intelligenz der Sinnstiftung (meaningfulness) und des intuitiven Gefühls: Sinn für ethisch Wertvolles, weltrettende Konzepte, Ehrenamtlichkeit, usw.

Ganzheitlich entwickelt, weil unterschiedliche Berufe zwar durchaus mehr oder weniger Wert auf eine der Teilintelligenzen legen, aber alle notwendig sind, um wirklich professionell zu sein und eine hohe Stufe des Kennens und Könnens zu erreichen. Maßvoll entwickelt deshalb, weil eine zu starke Ausprägung störende Folgen haben kann. Ein zu hoher IQ mag zu Besserwisserei führen. Ein zu hoher EQ macht möglicherweise anfällig dafür, ausgenutzt zu werden. Ein zu hoher VQ kann Rücksichtslosigkeit oder Machtgier auslösen, …

Erst diese ausgewogene Zusammenspiel stelle sicher, dass professionelles Arbeiten gelingt. Stattdessen werde oft nur so getan als ob. Empathie werde beispielsweise im Supermarkt Kaufland dadurch suggeriert, dass die Mitarbeiter nach dem Kassieren fragen: „War alles in Ordnung?“ Das machen die wirklich! Allerdings spürbar mechanisch lustlos. Ich habe mich da schon häufiger gefragt, welcher Manager sich das ausgedacht hat und wirklich glaubt, die Leute fänden das authentisch und überzeugend. Das scheinen die inzwischen allerdings sogar gemerkt zu haben, und wie sieht ihre Lösung aus? Damit das nicht so auffällt, wird man neuerdings alternativ auch gefragt: „Haben Sie alles gefunden?“

Das gibt es aber auch anderswo, davon habe ich kürzlich im Sammelband Das Internet der Zukunft berichtet. Viele Unternehmen haben ja Schwierigkeiten damit, mit dem seltsamen Verhalten von Kunden im Internet umzugehen. Es wird dann nach Rezept der Marketing-Literatur das Instrumentarium neu justiert, die Unternehmenskommunikation dialogisch angelegt und vielleicht ein Twitter-Konto eröffnet, aber wirklich zugehört wird dort niemandem. Der IQ ist offenbar da, aber an der Einstellung hat sich dennoch nichts geändert. Der EQ fehlt trotzdem und all die Maßnahmen laufen ins Leere oder lindern höchstens kurzzeitig die Symptome des Problems.

Woher nehmen?

Den Ansatzpukt auf dem Weg zur Professionalität sieht Herr Dueck im gesamten Bildungssystem, angefangen bei den Eltern über den Kindergarten, die Schule und die Universität bis hin zur betrieblichen Weiterbildung. Lernen werde lediglich als Verbesserung des IQs verstanden, der Rest solle halt irgendwie von allein mitwachsen oder durch Ratgeber mit Titeln wie Vital und überzeugend in 14 Tagen oder Zwei-Tages-Seminare für Führungskräfte vermittelt werden. Das geht nicht!

Und nun wird das Buch auf den ersten Blick so etwas wie ein Heimspiel für die vielen lieben Menschen, die ich auf den EduCamps kennenlernen durfte (warum das nicht ganz so ist, erkläre ich weiter unten). Das Bildungssystem müsse weg von Gleichschritt-Lehrplänen im Frontalunterricht oder uninspirierter Gruppenarbeit. Weg von Einheitsprüfungen für alle. Im Grunde werde dadurch nur der IQ gestärkt und geprüft, vorwiegend als Wissen. Für den übrigen Teil fühle sich aber niemand verantwortlich.

Unternehmen wüssten etwa, dass sie ihre Mitarbeiter beruflich auf der Höhe der Zeit halten müssen und diese eben nicht wie selbstverständlich die vielbeschworenen Schlüsselqualifikationen alle mitbringen. Es würden allerdings so etwas wie Professionalität nur als Ziel vorgegeben, ohne die dafür notwendigen Ressourcen zu lassen.

Auch an Schulen und Universitäten sei vor allem ein Kulturwandel notwendig, in dessen Folge viele eine ganz andere Rolle einnehmen müssten und das vielleicht gar nicht können.

Professionelle Bildung schafft eine Kultur des Gelingens. (S. 189)

Es geht um das individuelle Coachen und Fördern. Das ist natürlich schwieriger – dafür muss man ja selbst erst einmal ausreichend professionell sein. Und das kostet Zeit. Diese Zeit könnte man sich aber mit dem Internet verschaffen.

Wieso sollten sich die Lernenden den Stoff nicht zu Hause selbst aneignen, mit Podcasts, Videos (vielleicht sogar gemeinsam per Hangout), Planspiele für den Wirtschaftsunterricht, … In der Lehrveranstaltung bleibt dann Zeit zum Diskutieren und individuellen Coachen. In dieser Art macht da ja zum Beispiel Christian Spannagel mit seinen umgedrehten Mathematikvorlesungen.

Das Problem sieht Herr Dueck aber darin, dass solche Initiativen zu verstreut sind, um große Wirkung zu entfalten. Jeder macht sein eigenes Ding, es gibt Dinge doppelt, dafür fehlen andere, usw. Er wünscht sich eine zentrale Online-Plattform, auf der ganz viele verschiedene Inhalte in unterschiedlichsten Darbietungsformen angeboten werden können, damit sich jeder das wählen kann, was ihm am besten liegt.

Ein anderes Problem seien die vielen Vorbehalte, die es gibt. Das Internet werde immer noch häufig eher als Gefahr gesehen denn als Chance. Experten sähen ihre hierarchische Stellung in Gefahr: Die Lernenden würden nicht mehr in den wenigen anerkannten Quellen lesen, die ihnen eine Autorität empfohlen hat (vielleicht die eigenen). Sie würden vielmehr nach vielen Lehrmeinungen surfen und sich eine eigene bilden – und womöglich unbequeme Fragen stellen. Vielleicht will man ja auch gar keine selbständig denkenden Menschen, sondern doch lieber brav gehorchende, austauschbare Mitarbeiter.

Was getan werden muss

Es bringe gar nichts zu streiten, ob Menschen von Natur aus nun die arbeitsscheuen Faulen sind oder die freudig Strebsamen, das führe nicht weiter. Vielmehr schlägt Herr Dueck ausgehend von seinen Ausführungen eine Theorie P vor, eine Vorstellung dessen, wie alle Menschen sein sollten. Wohlgemerkt, nicht dass alle von Natur aus so seien oder restlos alle so werden könnten, aber dass dies ein erstrebenswertes Ideal sein könnte, auf das man hinarbeiten kann. Die Professionellen sollten den weniger Professionellen helfen, denn auch der Commodity-Bereich trägt zum großen Ganzen bei! Der Übergang zur Theorie P erfordere ein Umdenken hin zur Berücksichtigung aller Teilintelligenzen, viel Rückmeldung, individuelle Betreuung und eine persönliche Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden (finde, das ist kompatibel mit dem, was Gerald Hüther unter Supportive Leadership versteht; dass Herr Dueck fast immer von Gelingen spricht statt von Erfolg haben, spricht ebenfalls dafür).

Die Neugier wird durch den strengen Lehrplan stark beschränkt. Man erwartet allerdings, dass alle Kinder neugierig auf das sind, was der Lehrplan bietet – alles andere wird untersagt. […] Neugier ist Leidenschaft für das Unerwartete! Nicht Pflicht zum Interesse für Vorgekautes. (S. 238)

Diejenigen, die schon seit einiger Zeit Vorschläge in diese Richtung machen, speziell mit Blick auf das Internet, mahnt Herr Dueck jedoch zur Vorsicht. Als Early Adopter begingen sie den Fehler, ihre eigenen Ideen gleich zum allgemeinen Standard der Zukunft erheben zu wollen – blind für Anderes. Die eigentlich aufgeschlossene Mitte werde durch so viele verschiedene Vorschläge überfordert, ihre Einwände abgewiegelt und sie damit verprellt. Vielleicht fehlt es an AQ? Diese pragmatische Mitte müsse aber mitziehen, sonst würden die kategorischen Ablehner erst recht nie einlenken.

Die Internetgemeinde bloggte und twitterte zwar, aber eigentlich blieben sie doch irgendwie unter sich. Die Leute müssten aber rausgehen und Verantwortung übernehmen, etwas tun oder wenigstens im realen Leben predigen. Eben: „A little less conversation a little more action„. Ich glaube allerdings auch, an vielen Stellen passiert tatsächlich schon manches Spannende. Und vielleicht kann ich ja auf der LEARNTEC im kommenden Jahr auch noch ein wenig predigen.

Fazit

Mir hat das Buch gefallen, aber das könnte auch einfach daran liegen, dass viel davon meine eigene Sichtweise widerspiegelt. Einigen wird das Buch zu vereinfachend sein. Ich würde sagen, es ist pragmatisch und schlicht an ein breiteres normales Publikum gerichtet – das normal meine ich hier gar nicht abwertend, im Gegenteil. Wer es tiefgehender mag, findet aber in älteren Büchern von Herrn Dueck auch noch mehr Unterfütterung seiner Thesen.

Was ich auch schön finde: Das Buch hat mich zum Nachdenken angeregt. Auch wenn es unterhaltsam ist, behandelt es ein ganz wichtiges und ernstes Thema. Was bringe ich denn selbst an Teilintelligenzen mit? Da würde ich selbst klar einige Defizite diagnostizieren und an anderer Stelle ein wenig zu viel des Guten. So richtig professionell würde ich mich da selbst wirklich nicht einstufen.

Der Beitrag ist nun ganz schön lang geworden, aber im Buch steht wirklich noch viel mehr! Ich würde es noch einmal kaufen. Und das mache ich auch, ich werde zum nächsten EduCamp in Bielefeld (18.11.-20.11.) einfach noch ein Exemplar mitbringen und dort irgendwie an die Frau oder den Mann bringen, bei der/dem ich meine, es fällt auf fruchtbaren Boden.

Danke für’s Durchhalten bis zu dieser Stelle.

Ist die Bildung noch zu retten?

Diese Frage stellt sich Josef Kraus in seinem gleichnamigen Buch, das ich gerade gelesen habe. Der Leiter eines Gymnasiums in Bayern fordert eine Befreiung der Bildung vom reinen Nutzdenken; klingt doch gut. Was ich insgesamt an der Streitschrift auszusetzen habe, ist der Fokus auf Strukturen und Inhalte, nicht aber auf das, was in den Klassen und zu Hause geschieht: das Miteinander zwischen Schülern, Lehrern und Eltern. Aber das mag schlicht eine Macke von mir sein, mir kommt dieser Aspekt einfach häufig zu kurz.

Bei diversen Argumenten konnte ich Herrn Kraus jedenfalls zustimmen, etwa bei seinem Plädoyer gegen Denglisch (ab S. 113) oder für mehr Toleranz von Mehrdeutigkeiten (S. 18), man könnte es auch den Umgang mit Unsicherheit nennen. An einigen Stellen stutzte ich allerdings, würde zumindest intuitiv widersprechen wollen und hätte daher einige Fragen. Vielleicht hat jemand von euch gute Antworten? Ich werde an dieser Stelle nicht alles diskutieren – dann würde der Beitrag noch länger werden, als er ohnehin schon ist – aber die drängendsten Punkte von meiner Seite reiße ich einfach mal ganz kurz an.

  • Die effektivste Lehrform in Bezug auf Leistung sei die direkte Instruktion, so Kraus. Er beruft sich dabei auf zwei Publikationen von Franz Weinert aus dem Jahre 1996, die von ihren Titel her inhaltlich aber dasselbe zu beinhalten scheinen. Leider habe ich auf die Beiträge noch keinen Zugriff, aber unabhängig davon frage ich mich: Selbst wenn das stimmt, sollte Leistungsfähigkeit (wie auch immer Herr Kraus das definiert) das einzige Kriterium sein, um die Effektivität von Lehre zu messen? Widerspricht er sich damit nicht selbst, wenn er an anderer Stelle fordert, man dürfe nicht nur auf das schauen, was hinten herauskommt?
  • Im Bereich der Hirnforschung beschäftigt man sich seit einiger Zeit auch mit dem Thema Lernen. Herr Kraus findet das offenbar ziemlich überflüssig (S. 69-74). Zum einen kritisiert er, konkrete Aussagen für das Lehren ließen sich daraus nicht ziehen und Neurodidaktik oder Neuropädagogik seien reine Marketingbegriffe – das lässt sich sogar nachvollziehen. Er moniert aber auch, die Ergebnisse seien Allerweltsweisheiten und bestätigten allenfalls das, was Pädagogen sowieso schon wüssten. Frage an Herrn Kraus: Hätte Isaac Newton sich überhaupt die Mühe machen sollen zu ergründen, wie es sein kann, dass Dinge auf die Erde fallen? Dass sie das machen, ist ja trivial und weiß jeder. Heute nennen wir den Grund einfach Gravitation. Sollten viele Physiker heute also ihre Bemühungen aufgeben zu erklären, wie Gravitation im Detail funktioniert? Ist die Frage nach diesem Wie überflüssig??? Oder anders: Die vollständige Bestätigung einer Theorie ist nie möglich. Sollte man gerade bei einem auch für Herrn Kraus so wichtigen Thema auf neue Herangehensweisen und Untersuchungen verzichten, die unabhängige Vergleiche zwischen Beobachtungen und damit neue Erkenntnisse liefern können?
  • Zum Thema Nervenzellen schreibt Herr Kraus: „Denn ein einzelnes konkretes Individuum hat rund 120 Milliarden Nervenzellen, jede von diesen Nervenzellen interagiert mit bis zu 15 000 anderen Nervenzellen. Die Gesamtzahl der Verbindungen liegt bei rund 1 000 000 000 000 000 (1 Billiarde; eine 1 mit 15 Nullen). Insgesamt übertrifft diese Zahl die Anzahl der Atome im gesamten Universum.“ (S. 70). Nicht nur, dass mir 10^{15} ein wenig sehr klein vorkam – und tatsächlich schätzt man die Anzahl der Atome im Universum wohl eher auf rund 10^{80} – was ist denn das für eine Logik? Die Verbindungen zwischen Nervenzellen bestehen auch aus Atomen, wie sollte deren Zahl dann größer sein als die Zahl der Atome im Universum insgesamt? Hakt es bei mir irgendwo oder bei Herrn Kraus mit dem Abschätzen eines Problems?
  • Herr Kraus hebt die Bedeutung der Unterrichtsfächer Geschichte und Religion (damit meint er das Christentum) hervor, da sie einer Person helfen könnten, die Welt und sich selbst zu verstehen (S. 93-112). Grundsätzlich sicher nicht falsch. Wenn also viel mehr Geschichte unterrichtet werden müsste, wo ist das unterzubringen? Und wie sieht es erst in 50 Jahren aus, wenn es noch mehr Geschichte zu lernen gibt? Wieso hat christliche Religion eine Sonderstellung? Ja, Deutschland ist natürlich geprägt davon, aber müsste man nicht ebenso viel über andere Religionen lernen, die anderen Kulturkreisen ihren Stempel aufgedrückt haben und deren Verständnis in einer immer kleiner werdenden Welt wichtiger werden? Könnte man das nicht tatsächlich in einem neutralen Fach zusammenfassen? Und nein, Gottlosigkeit kappt in meinen Augen keine Wurzeln zur Moral in der Rechtsordnung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kommt auch prima ohne religiöse Bekundungen aus.
  • Laut Herrn Kraus laufe bilingualer Unterricht auf eine zweifache Halbbildung hinaus (S. 113). Ich hatte von Klasse 7 bis 11 Erdkunde und Geschichte teilweise in Englisch, und ich wage zu behaupten, mit meinem Englisch muss ich mich wahrlich nicht vor anderen verstecken, welche die reine Lehre erfahren haben. Und in Erdkunde und Geschichte bin ich immerhin nicht ganz zurückgeblieben, glaube ich.
  • Herr Kraus schreibt: „An 50 von 2500 Gymnasien in Deutschland gibt es eigene Klassen für Hochbegabte. Unumstritten sind diese Klassen nicht, denn ob in sich geschlossene Gruppen der Entwicklung von Minderjährigen guttun, ist fraglich. Immerhin haben Schüler solcher Klassen wie in einer Art Laborraum kaum noch mit ‚Normal‘-Schülern und deren Anliegen zu tun.“ (S. 134) Herr Kraus spricht sich gleichzeitig aber drastisch gegen Gesamtschulen und für eine frühzeitige Trennung auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium aus (S. 52-59). Ich bin keinesfalls für Gleichmacherei, kein vehementer Verfechter der Gesamtschule (sondern von Vielfalt), aber widerspricht sich Herr Kraus mit seinen Aussagen nicht selbst?
  • Mit seinen Ausführungen zu Europa gleitet Herr Kraus meiner Meinung nach vom Thema Bildung ganz schön ab (an vielen anderen Stellen aber auch). Er schreibt: „Europa muss also endlich wieder ein vitales Interesse an seiner Selbstverteidigung haben. Freilich wird diese nur gelingen im Verein mit den USA.“ (S. 114). Ich erlaube mir vor dem Hintergrund eines völkerrechtswidrigen Krieges gegen den Irak oder der Missachtung der staatlichen Souveränität von Pakistan durch militärische Intervention eine ebenso abseitige Frage danach, warum solch ein Staat der Verbündete schlechthin sein sollte?
  • Durfte ja auch nicht fehlen: Böse Rockmusik und Egoshooter sind für den Niedergang mitverantwortlich (S. 200)… Keine Gegenbeweise, aber unterhaltsam und interessant: Von den bösen Auswirkungen den Heavy Metals und Gewalt durch Computerspiele? Wissenschaftler sagen jein.

Soweit zu den drängendsten Punkten von meiner Seite. Zum Abschluss würde ich aber eines noch gerne festhalten, da es diesbezüglich schon zu Missverständnissen gekommen zu sein scheint: An verschiedenen Stellen benutzt Herr Kraus die Begriffe Spaß-, Gefälligkeits- und Erleichterungspädagogik. An einer Stelle ergänzt er, Lernende hätten eine Holschuld (S. 44). Ich stimme zu: Lernen ist auch mal anstrengend und bedarf der Eigenverantwortung. Herr Kraus schreibt aber nicht, dass Lehrende von der Pflicht entbunden wären, ihr eigenes Wissen didaktisch aufzubereiten oder bei der Darbietung möglichst individuell auf die Lernenden einzugehen. Ebenso spricht er Lehrende nicht von Verantwortung für das Fortkommen ihrer Schützlinge frei. Und dass Lernen nie Spaß machen dürfte oder nur gut sei, wenn es keinen Spaß mache, schreibt er auch nicht.